ERSTE ANTWORTEN AUF FICHTE: KREUZGANGS BRUDERGESTALT ALESSANDRO
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<Zu Klingemanns zweibändiger »Arabeske« »Die Ruinen im Schwarzwalde« (Braunschweig 1798/99), die er wohl noch gegen Ende
seiner Schulzeit am Collegium Carolinum niederzuschreiben begann:>
<...> Erinnert das zweideutiges Verhalten des späteren Tyrannenmörders Alessandro zunächst noch stark an Fieskos Lavieren, so emanzipiert ihn doch der eigentümlich mimetische Aspekt, wie er der eigenen Maske zum Opfer fällt und sein Selbstgefühl sich um so mehr verwirrt, als seine Repressalien nicht zum offenen Aufruhr führen. Im ersten Teil, der die Jahreszahl 1798 trägt, wird dieser Konflikt sehr verhalten behandelt. Im zweiten, mit der Jahresangabe 1799 und typographisch abweichendem Titelblatt erscheinenden Teil wird die Aporie derart unerbittlich durchgehalten, bis zur Selbstvernichtung von Gewissen und Reflexion, daß ich hierin die unmittelbare Einwirkung der idealistischen Philosophie auf den Studenten Klingemann ansetzen muß – am 14. Mai 1798 wurde er in Jena immatrikuliert und wird sich mit Feuereifer auf das Studium der Literaturkritik sowie Fichtes Transzendentalphilosophie geworfen haben). <...>
All unser Interesse auf sich ziehen nun die vier großen, rhythmisch fortrückenden Monologe Alessandros, die trotz des nervösen und rhapsodischen Vortrags so deutlich auf Kreuzgang vorweisen, daß ich schon im Anhange zu meinem »Rohmanuskript« 1973 aus ihnen zitierte und dies hier wieder tun will.
Von den zentralen intellektuellen Themen der »Nachtwachen« erkennt man dabei sicherlich leicht die These vom Menschen als dem verunglückten Entwurf der Natur, die ihn durch die geschlechtliche Liebe zu betrügen wußte, sodann das Teufelsgelächter über die Selbsttäuschungen des Menschen, das Einbrechen einer geistigen Nacht und die gegenchristliche Ahnung um das leerbleibende Grab; schon angedeutet ist zudem der formelhafte Buchschluß mit der dreifachen Negation:
»Im Thale schwamm ein dünner Nebel und verbreitete ein magisches Heldunkel – alles fühlte sich so frei und leicht gestimt, nur Alessandro kam langsam und ernst aus dem Haine – er hatte die Arme fest über einander gekreuzt und war in ein tiefes Nachdenken versunken. Er blickte finster in die Höhe; über ihm spante sich der gestirnte Himmel aus, eine zahllose Menge glänzender Welten schwamm in dem weiten Luftraume. – ›Unergründliches Schicksal!‹ – sagte er zu sich. – ... Ein spielender Zufall wirft sich zwischen Vorsaz und Handlung – und die kühnsten Welteroberungsträume scheitern an der Wilkühr eines Wurmes! Von hohen Entwürfen schwelt sich die Brust, die Phantasie schaft sich eine Zukunft voll Feengestalten – da reißt ein Windstoß eine Schneeflokke vom Felsen, sie stürzt, schwilt an ... ein feindseliger Geist schwebt über der Unordnung, und lacht über das Gaukelspiel das er sich bereitete ... Wer Gott verwirft, nur der ist groß – die Freiheit selbst, ist Gottheit! – Zum Selbstmorde, oder zur Unsterblichkeit muß dieser Weg mich führen ! ... Er ging langsam weiter, tief zog er sich in sich selbst zurük – und endlich kam er, ohne es zu wollen zu dem nahen Totenakker ... ›Diese lange Nacht durchdringt kein sterbliches Auge! Hier nimmt die Luft keinen Schall mehr auf! Hier ist der Grenzstein hingewälzt! – Aus diesen Gräbern steigt nichts mehr hervor - öfne sie und die Verwesung zieht Dich hinab zu ihrer Beute!«‹223)
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223 Die Ruinen im Schwarzwalde, a.a.O. Bd. 2, S. 58-63
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