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MERLIN ODER DER ALTE GOETHE
DIE LETZTEN JAHRE (1823-32)
Verbesserte und um Abbildungen ergänzte Fassung meines Essays in Bd. 37 der Frankfurter Goethe-Ausgabe
(Deutscher Klassiker Verlag: ›Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod‹, Frankfurt/M. 1993, S. 627-674)
Revidierte Fassung von August 2018 (mit weiteren Abbildungen)
Am
14. 12. 1830 schreibt Goethe seinem Freund Zelter, der seit vielen
Jahren die Berliner ›Singakademie‹ leitet und Musikprofessor an
der Akademie der Künste ist: »Schon manchmal hab ich bedacht, wie
wir beiden gleichsam an die entgegengesetzten Enden der sozialen Welt
angewiesen sind; du,
in die kreiselnde Bewegung einer volkreichen Königstadt
verschlungen,
hast alles persönlich zu bestehen, unterrichtest und lehrst <...>
Indessen
ich einsam, wie Merlin vom leuchtenden Grabe her,
mein eignes Echo ruhig und gelegentlich, in der Nähe, wohl auch in
die Ferne vernehmen lasse«. Ein poetisches Denkbild für die letzten
Jahre Goethes: Merlin, der Zauberer und Prophet der Artusdichtung,
von der Fee Viviane unter einem Weißdornbusch in ewigen Schlaf
versenkt, von Zeit zu Zeit aber noch mit einem Rat für die Zukunft
zu vernehmen. Wie geisterhaft Goethes Präsenz tatsächlich war, wie
sehr sein Interesse an der Gegenwart sich aus der Perspektive nach
dem eigenen Tod bestimmte,
geht aus vereinzelten Tagebuchnotizen wie aus den vielen
unterdrückten, gleichwohl aufbewahrten Stellen seiner
Briefkonzepte hervor, ja, schon aus den weiteren Ausführungen dieses
Schreibens an Zelter: Nach dem Tode seines Sohnes vor wenigen Wochen
in Rom habe er sich von der Arbeit am letzten Teil seiner
Autobiographie »ganz absorbieren« lassen und bereite nun, nach
erlittenem Blutsturz, testamentarisch die Veröffentlichung seines
Briefwechsels mit Zelter vor einer noch ›lebenden‹
Korrespondenz also. Ein Leitmotiv darin ist Goethes
Aufforderung, ihn rasch mit neuen Berichten aus dem Berliner Leben zu
versorgen, und das heißt denn doch: sie noch diesem Briefwechsel
einzuverleiben, für den er seit 1825 die älteren eigenen Briefe von
Zelter zurückerhält, um sie wie die jüngsten für die
geplante Veröffentlichung abschreiben zu lassen. Aspekte unseres
(latenten) Themas, wie ein Großer vom Leben Abschied nimmt.
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