Amme Sibylla und von Heliodor zum Schein beerdigt, fällt jedoch ebenso wie der in psychosomatischer Starrsucht sterbende Graf und sein nichtehelicher Sohn Heliodor dem misslingenden Plan der Amme zum Opfer. Jene List der vorgetäuschten Beisetzung mit dem Ziel einer ungestörten Liebesbeziehung wiederum erinnert – ein weiterer gezielter Seitenhieb Klingemanns – an den bekannten Skandal um den Braunschweiger Herzog Heinrich II., der sein Verhältnis mit der Hofdame Eva von Trott 1532 mithilfe ihrer Scheinbeerdigung heimlich fortsetzen konnte. Als Klingemann das Stück zum erstenmal brieflich erwähnte, bezog er sich nur auf diesen später von ihm verkappten historischen Hintergrund: »Ich bearbeite jetzt ... die bekannte Geschichte der Eva von Trotha.« (Brief vom 2. 4. 1828 an den befreundeten Dresdener Opernregisseur Karl Theodor Winkler, in: ›August Klingemann. Briefwechsel‹, hg. von Alexander Košenina und Manuel Zink; Göttingen 2018, Nr. 260).
Ob die versteckte Botschaft des Stückes schon das breite zeitgenössische Publikum erreichte, ist mehr als fraglich; einem Teil der Zuschauer dürfte es gegraust oder vor Entsetzen den Atem verschlagen zu haben. So zollt der anonyme Rezensent in den Leipziger ›Blättern für literarische Unterhaltung‹ (vom 18. Februar 1831) dem Dramatiker Klingemann zwar pauschal Anerkennung, zeigt sich aber nach dieser Lektüre fassungslos: »Bianca di Sepolcro ist ... ein Trauerspiel von lauter Wahnsinnigen dargestellt. .... ein Aufgebot aller denkbaren Schrecken, Verwandtenmord, Blutschande, Tempelentweihung, Leichenverstümmelung, Brand, Kindes- und Schwesternmord ... Sein Vers ist trefflich; die Bilder sind furchtbar; man sollte glauben, er nähme an dem allgemeinen Wahnsinn Theil. ... Hier ist Stoff zu 20 Melodramen!«
In einem Atemzug mit ›Bianca di Sepolcro‹ sprach Klingemann im dem zitierten Schreiben an Winkler ein weiteres, im Druck nicht nachgewiesenes Theaterprojekt an: »Ich bearbeite jetzt einen wackern dramatischen Stoff: ›Carl VI. König von Frankreich‹ (bekanntlich der momentan wahnsinnige Fürst, welcher während jenes Irrsinns seinen Sohn verfluchte und verbannte – Talma soll diese Rolle meisterlich ausgeführt haben) und die bekannte Geschichte der Eva von Trotha.« Klingt dies nicht so, als hätte Klingemann mit ›Carl VI.‹ ein Seitenstück zu seinem gegen Herzog Carl II. gerichteten Drama ›Bianca‹ gefunden? Eines, das sich gleichfalls in kryptisch annihilierender Tendenz gegen einen irrsinnig gewordenen Fürsten oder »Landesvater«, der seinen künstlerischen »Sohn« vom Hofe verbannt, in Szene setzen ließe? Gemeint sein dürfte übrigens nicht – wie bislang vermutet – Talmas Nebenrolle in Shakespeares ›Heinrich V.‹, sondern Talmas Titelrolle und Schwanengesang in ›Charles VI‹ von A.-J.-J. de La Ville de Mirmont, von der in Cottas ›Morgenblatt‹ vom 17. 11. 1826 und in dessen ›Literatur-Blatt‹ vom 16. 2. 1827 berichtet wurde.
Klingemann selber war spätestens im Jahre 1804 als Theaterleiter tätig. Seinen Brief vom 26. 6. 1804 vermutlich an die Joachim’sche Buchhandlung in Leipzig beschließt er mit: »Hochachtungsvoll ... August Klingemann (jetzt Theater-Direktor)«. Die Herausgeber seines Briefwechsels bemerken hierzu: »Offenbar hatte Klingemann schon viel früher als bisher angenommen den ‚artistischen Theil‘ einer Schauspielgesellschaft übernommen ... Vermutlich hatte Klingemann Kontakt zur Magdeburger Schauspieltruppe geknüpft und dort vorübergehend den Posten des Direktors übernommen.« (August Klingemann. Briefwechsel, a.a.O. Brief Nr. 8 und Kommentar S. 284f.)
Auch Hugo Burath hatte 1948 diese Kontakte mit den seit 1801 öfter in Braunschweig Gastspiele gebenden Theaterdirektoren Fabricius und Hostovsky sowie ihrem Regisseur Friedrich Ludwig Schmidt erörtert und speziell Klingemanns Einfluss auf Theaterarbeit und Stückeauswahl ihrer Magdeburger Truppe (Burath, a.a.O. S. 95-99 in dem Kapitel »Betätigung in der Magdeburger Wandertruppe«). Von Februar 1806 an ließ Klingemann zu den beiden Braunschweiger Messen auch seine eigenen neuen Stücke von der Gesellschaft aufführen, begann mit der Uraufführung seiner »historischen Tragödie« Heinrich der Löwe und schloß mit seinem »Höllen-Breughel« Das Vehmgericht, mit dem sich die Truppe während der Wintermesse 1810 für immer aus Braunschweig verabschiedete (vgl. Burath S. 97-99 und Hartmann S. 284-306).
Er setzte diese strategische Zusammenarbeit 1810 mit der in Braunschweig gastierenden Waltherschen Truppe aus Hannover fort, übernahm nach dem baldigen Tod ihres Direktors bis 1816 deren Künstlerische Leitung und wurde noch im selben Jahr Direktor des auf Aktionärsbasis