Typoskript der Identifizierung von »Bonaventura« (1973)
ZERSPRUNGENE IDENTITÄT
KLINGEMANN - ›NACHTWACHEN VON BONAVENTURA‹1)
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Von der Ekstase eines lange unterdrückten Einzelgängers handeln die ›Nachtwachen‹ von »Bonaventura«. Die Frage nach dem Verfasser ist nicht unerheblich für eine pseudonyme Schrift; sind auch kleinliche Rücksichten und erkünstelte Erwartungen oft im Spiel, objektiv stellt sich mit solcher Publikation die Forderung, ihren sozialen Kontext mitzulesen. Das Pseudonym als Schutz- oder Werbeschicht zeigt Literatur im Widerspruch zum offiziellen Leben. Als Symptom für einen Abbruch von Kommunikation in der Verlautbarung gehört die pseudonyme wie die anonyme Veröffentlichung zur Aufgabe der Tiefenhermeneutik. Ob ein Text bewußt verstellt oder irreführend herausgegeben wird, Verhaltensweisen oder Krankheiten unbewußt begründet sind, politische und kulturelle Äußerungen von nichtbewußten Tendenzen mitformuliert werden, in jedem Fall begreift diese Interpretation von Lebenszeichen Geschichte wie in den Kategorien von Bewußtsein, Kommunikation so in denen von Gewalt, Ausnutzung und Verstummen.
Die allgemeine Problemstellung der Tiefenhermeneutik: Versagen von Sprache unter Druck, ist verschärft in den Sonderfällen des Gegenzeitigen, in denen der Niedergehaltene mit den Ansprüchen und Erwartungen seiner Zeit bewußt gebrochen und sich ihnen konstruktiv versagt hat. Ein Hochmut aus Verzweiflung, indem die Zeitdiagnose so rradikal ausgefallen ist, daß keine Aussicht auf Verständnis und Gehör besteht. Fontanes kryptisches Erzählen hat in der Sexualsymbolik ein Tarn- und Erkenntnismittel zugleich erarbeitet. Von »Bonaventura« liegt der Text selber unverschlüsselt vor, freilich in der Perzeptionsweise der ›Nachtwachen‹. In ihnen thematisiert der Demaskierende das Unzeitgemäße seiner Aufklärung; die ausgesprochene Einsicht, daß außer der Maske nichts bleibt, umgreift das »Ich« selbst; dies hebt den Erzähler über alle moralisierende Zeitkritik, dies macht den Entschluß zur pseudonymen Veröffentlichung eigentlich erst zwingend. Und doch ist diese Zeitkritik, die um ihre Nichtsnutzigkeit weiß, veröffentlicht worden; gleich Fontane drängt das Sichversagen über Resignation hinaus. Solch Behauptenwollen der Integrität zeichnet die Position des Unzeitgemäßen aus gegenüber den anderen Objekten der Tiefenhermeneutik, bei denen der Ersatz- und Kompromißcharakter vorherrscht; bezeichnet weiterhin den Unterschied zu heutigen im
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1) Postskript 2011) Unter diesem Titel habe ich das nachfolgende Typoskript (ein Rohmanuskript) 1974 als Beilage zu meiner gedruckten Tübinger Fontane-Dissertation veröffentlicht und angemerkt:
»Geändert am Rohmanuskript habe ich nur das zum Verständnis Nötigste ... : Ein paarmal je Interpunktion, vertippte Buchstaben, Festlegung bei mehreren Wortversionen bzw. bei ohne Ersatz Durchgestrichenem dessen Wiederaufnahme. Die Marginalien - Bleistift - sind an die bestpassenden Stelle geschlossen ... Die wenigen nachträglichen Lesehilfen habe ich in Doppelklammer gesetzt; die Zitate durchnumeriert und im Nachtrag genauer belegt.«
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