LITERARISCHER VAMPIRISMUS. KLINGEMANNS ›NACHTWACHEN. VON BONAVENTURA‹
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seine prima conditio: Staub, Nichts.«54) Das ist doch kein »Hinweis« für Kreuzgang, er verzweifelt ja geradezu an der Sterblichkeit des Menschen! Denn das Unerhörte seines Nihilismus zeigt sich genau jetzt, als er, angesichts des Totenschädels, dem Horizont der Transzendentalphilosophie eine originelle Wendung zugunsten der Individualgeschichte gibt:
»Was ist nun dieser Pallast, der eine ganze Welt und einen Himmel in sich schließt; dieses Feenschloß, in dem der Liebe Wunder bezaubernd gaukeln; dieser Mikrokosmos ... der Tempel gebar und Götter, Inquisitionen und Teufel; dieses Schwanzstück der Schöpfung – das Menschenhaupt! – die Behausung eines Wurmes. – O was ist die Welt, wenn dasjenige was sie dachte nichts ist und alles darin nur vorüberfliegende Phantasie! – Was sind die Phantasieen der Erde, der Frühling und die Blumen, wenn die Phantasie in diesem kleinen Rund verweht, wenn hier im innern Pantheon alle Götter von ihren Fußgestellen stürzen ... O rühmt mir nichts von der Selbstständigkeit des Geistes - hier liegt seine zerschlagene Werkstatt, und die tausend Fäden, womit er das Gewebe der Welt webte, sind alle zerrissen, und die Welt mit ihnen. – «55)
» ... und die Welt mit ihnen.« Die metaphysischen Implikationen dieser Todesklage hat man einfach übersehen oder nicht ernst genommen. Gerichtet ist sie gegen den knappen Bescheid, das Ich habe nur als absolutes und nicht als individuiertes Ewigkeitswert (Fichte zur Wissenschaftslehre: »Nur die Vernunft ist ihr ewig; die Individualität aber muß unaufhörlich absterben«)56): Nihilismus ist für Kreuzgang nichts anderes als der transzendental geschulte Protest, daß mit dem Tod des Individuums, des einzigen Sinnschöpfers und -trägers, »Welt« immerzu neu und unwiederholbar vernichtet werde, Protest gegen die beschönigenden Vorstellungen, in den Kreislauf der Materie eingesenkt zu sein, gegen die Palingenesen, wie sie soeben noch der Geisterseher vertreten hatte (»die Gestalten der Verweseten nehmen eine freundlichere Gestalt an und blühen als schöne Blumen wieder auf«) und wogegen Kreuzgang, den Schädelwurm in der Hand, das Sinnbild eines schmarotzenden Universums setzt. In witziger Konsequenz spricht er diesen Wurm gleichsam als den Statthalter aller Menschengenerationen an, richtet in
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54 Arendt, a.a.O., S. 521 55 16. Nachtwache, a.a.O., S. 195
56 Johann Gottlieb Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797). Zit. nach: Philosophische Bibliothek Bd. 239 (Hamburg 1967), S. 92
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