DAS GEBURTSHAUS AM PAPENSTIEG. DIE ZWIEBEL
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Das
umfassende Zwiebel-Gleichnis zu Beginn der 9. Nachtwache lautet so:
»Die
Menschheit organisirt sich gerade nach Art einer Zwiebel, und schiebt
immer eine Hülse in die
andere bis zur kleinsten, worin der Mensch
selbst denn ganz winzig stekt. So baut sie in den großen
Himmelstempel an dessen Kuppel die Welten als wunderheilige
Hieroglyphen schweben, kleinere
Tempel mit kleinern Kuppeln und
nachgeäfften Sternen, und in diese wieder noch kleinere Kapellen
und
Tabernakel, bis sie zulezt das Allerheiligste ganz en miniature wie
in einen Ring eingefaßt hat ...
In die allgemeine Weltreligion, die
die Natur mit tausend Schriftzeichen geoffenbart hat, schachtelt sie
wieder kleinere Volks- und Stammreligionen für Juden, Heiden, Türken
und Christen; ja die leztern
haben auch daran nicht genug, sondern
schachteln sich noch von neuem ein. - Eben so ist es mit dem
allgemeinen Irrhause, aus dessen Fenstern so viele Köpfe schauen,
theils mit partiellem, theils mit to-
talem Wahnsinne; auch in dieses
sind noch kleinere Tollhäuser für besondere Narren hineingebaut.
In eins von diesen kleinern brachten sie mich jezt aus dem großen,
vermuthlich weil sie dieses für zu
stark besezt hielten.«110
Schon
bei der 9. Nachtwache war herauszubringen, wie durchtrieben
Bonaventura das Zwiebelgleichnis für das
Erzählverfahren selber nutzt, indem er im
Zentrum dieses Bildes den wahnsinnigen Weltschöpfer
erscheinen läßt, der wie Fichte auf das »kleine Ich, das
jeder winzige Knabe ausrufen kann«, zurückgehe,
um »aus der unbedeutenden Hülse, wie es ihm beliebt,
ganze Kosmogonien, Theosophien,
Weltgeschichten und dergleichen ... herauszuziehen«. Gegen
solche Prätention richtet sich Kreuzgangs
Denken, verfällt aber seinerseits, von außen her rücksichtslos
auf ein Eigentlichstes im Inneren dringend,
der von Richard Brinkmann beschriebenen Dialektik von Schein und
Sein: »Die Masken abzureißen, was
dahintersteckt ans Licht zu bringen, ist
Hauptgeschäft des Nachtwächters«; »indem der
demaskierende Aufklärer Haut um Haut von
der ›Zwiebel‹
des
Wirklichen, der Erscheinungen abschält,
um ins Innerste vorzudringen ... gerät er
schließlich nicht an einen reellen Kern, der
maskenlose, schalenlose, bare und
lautere Realität wäre, vielmehr gelangt er zum
Nichts«,111
zumal
sich ihm so auch das eigene reflektierende Ich im
Traum der 14. Nacht-
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110 Nachtwachen, a.a.O., S, 109f.
111 Richard Brinkmann, Nachtwachen von Bonaventura. Kehrseite der Frühromantik? (Pfullingen 1966), S. 12 und 22f.
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