GOETHES LETZTES JAHRZEHNT. IM SCHATTEN DES TODES
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einen
kritischen Vergleich zwischen Balzacs Peau
de chagrin und Hugos Notre-Dame
de Paris und in Nr. 877 einen
Gedanken über Theater und bürgerliches
Leben; außerdem noch eingestreute
naturwissenschaftliche Reflexionen
wie in Nr. 789 über den Mißbrauch von Terminologien,
Nr. 792 über den liberalen Umgang mit
Prämissen oder Nr. 827 über den epochalen Wechsel
von Galilei zu Newton.
Zur
Erklärung wäre zu bemerken, daß Goethe in den Jahren zuvor die
einschlägigen eigenen Publikationsorgane
aufgegeben hat, die Reihe ›Zur
Naturwissenschaft überhaupt‹
bzw. ›Zur
Morphologie‹ erschien
1824 zum letzten Mal und das letzte Heft von ›Kunst und
Altertum‹ 1828 (postum noch eins 1832). Das Tagebuch war
wohl noch am ehesten geeignet, kleinere
unverbundene Betrachtungen
aufzunehmen, die schon im Ansatz ziemlich
heterogene literarische Formen darstellen -
so hat man nun öfter embryonische Formen
von Essays vor sich, mitunter erzählerische oder
naturlyrische Miniaturen (etwa in den
Dornburger Wochen 1828), dann wieder Passagen,
die wie Nr. 793 zur Julirevolution
ebenso in einem vertraulichen Schreiben oder
Dossier stehen könnten oder wie Nr. 789 in ihrem
breiten argumentativen Duktus uns
so nur als Gesprächswiedergaben Dritter
geläufig sind. Eine Fülle von Textsorten,
komplettiert durch Sonderformen wie die
genauen, Stunden umfassenden
Wetterbeobachtungen und die prallen
Berichte seiner ›oberaufsichtlichen‹
Visiten in Jena, die sich auch als formlose
Inspektionsberichte lesen lassen.
Groß
und überwältigend aber ist das Tagebuch des alten Goethe in den
unspektakulären Protokollen, die Stunde
für Stunde Ereignis für Ereignis begleiten, das
gewaltige Lektürepensum wie die Unmenge von Besuchern,
die hier noch einmal defilieren. Wer sich einmal
von diesem Rhythmus ergreifen läßt, hat bald nur noch helle
Bewunderung für diese Energie,
Arbeits- und Erfahrungslust. Die vorliegende
Auswahl kann leider nur schwer einen Eindruck davon
vermitteln, am ehesten noch durch die
Tagebuchsequenzen, die durch keine anderen
Textzeugnisse unterbrochen werden.
***
Im Schatten des
Todes liegt dieses Jahrzehnt. Gleich zu Beginn, bei seiner ersten
Herzattacke im Februar 1823, gibt sich Goethe schon verloren. Nach
dem euphorischen Sommer in Böhmen erleidet er im
November 1823 einen zweiten
lebensbedrohenden Herzanfall. Wohl vergehen
bis zur nächsten Krise, dem Blutsturz nach Augusts Tod,
noch sieben Jahre, jene Doppelattacke aber hat sein
Lebensgefühl und Denken
gezeichnet. Zu erkennen
gibt dies zunächst die
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