GOETHES LETZTES JAHRZEHNT. AUSGABE LETZTER HAND
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lung
der gewohnten längeren Aufenthalte in Jena, wo ihm seine
»Studenteneinrichtung« schon ab 1820 zu unbequem wurde.
Ansonsten erfahren wir von einer gewissen Schwerhörigkeit,
dem Verlust (und Ersatz) der Zähne, die ihn so oft gepeinigt
hatten, dem schurrenden Gang über den Teppich, seiner
gezwungenen aufrechten Haltung, vom frühen Ermüden
und von kleineren Beeinträchtigungen, indem er
manchmal Sachen verlegt, sich in Briefen wiederholt,
nicht mehr so leicht Entschlüsse fassen kann und
auch, wie Vogel zu erkennen glaubte, von der »so
großen Beweglichkeit der Gedanken« einbüßt. Man
versteht jedenfalls, daß Goethe 1826 eine
Erkundigung Therese Hubers nach seiner Kenntnis der
klassischen Abhandlungen über das Altern
recht kühl beantwortet, seine Lektüre geradezu verleugnet
und lieber auf neue erfreuliche
Alterserfahrungen hindeutet.
Davon ist auch in einigen Briefen an Zelter die Rede; so
defensiv sein Wort vom 16.12.1829 klingt, »daß im hohen
Alter die verständige Vernunft, oder, wenn man
will, der vernünftige Verstand sich als
Stellvertreter der Sinne legitimieren
darf«, so ungeheuerlich in seiner
Geisteszentrierung das Bekenntnis vom
29.4.1830: »Und dann darf ich dir wohl in's Ohr sagen: ich
erfahre das Glück, daß mir in meinem hohen Alter
Gedanken aufgehen, welche zu verfolgen und in Ausübung zu
bringen eine Wiederholung des Lebens
gar wohl wert wäre«. Wir werden sehen.
Wie
Goethe seine Immobilität durch die vielen in- und ausländischen
Besucher mehr als nur kompensiert, so widersteht er der
Todesdrohung geistig durch eine eigene Altersstrategie, die sich
in einer Polarität von Sammlung und Auflösung,
konzentrierender Beschränkung und Überschreitung
vollzieht: Konzentration auf die eigenen Arbeiten
und Projekte, die noch unausgeführt und
ungesichert daliegen, insbesondere durch den Aufbau einer
›Vollständigen
Ausgabe letzter Hand‹,
die Wiederaufnahme steckengebliebener
Werke, Sicherung des literarischen
Nachlasses und, wie erwähnt, die Herausgabe seiner vitalsten
Briefwechsel. Überschreitung und Entgrenzung
im neuen Thema der ›Weltliteratur‹, in der zunehmenden
Distanzierung von der (›veloziferischen‹)
Gegenwart zugunsten einer höheren geistigen
Solidarität, auch als Versenkung in die kollektive
Vorzeit wie in die eigene Lebensgeschichte,
um noch hier, im Innersten und Kostbarsten der Individualität,
Reste falscher Selbstsicherheit aufzulösen.
Als
er im Mai 1822 ein Schema »zu einer vollständigen Ausgabe zu
Goethes Nachlaß« ins Tagebuch einträgt und Tage später
seinen Schreiber Kräuter mit der Sichtung und Ordnung seiner
gedruckten und ungedruckten Arbeiten
beauftragt, scheint Goethe zunächst nur an
archivalische Vorarbeiten zu denken, die nach Lessings Beispiel
für eine postume Ausgabe zu nutzen
wären. Schlägt er noch Mitte 1823 in Briefen an Cotta
nur eine Aufstockung der 20bändigen
Gesamtausgabe seiner Werke ›B‹ durch schon im Druck
vorliegende zerstreute Werke auf 30
Bände vor (just die Bandzahl jener ›Vermischten
Schriften‹ Lessings!),
so sucht er ihn seit Mai 1824 für eine größere und
von Grund auf neu einzuteilende Ausgabe zu gewinnen.
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