GOETHES LETZTES JAHRZEHNT. ERINNERUNGSSCHOCKS
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Bildquelle: NFG Weimar
Mit diesem
Vergleichsbild treten wir in die Innenseite seiner eremitischen
Altersexistenz, wenden uns von seiner Abwehr
zeitgenössischer Forderungen zur Dimension der
Erinnerung und Selbstprüfung. Erinnern als
feierndes Gedenken ist ihm wie das
sehnsüchtige Zurückblicken auf die
Vergangenheit verhaßt. Wenn je ein Ereignis für
jemanden von Bedeutung war, ruft er am 4.11.1823
beim Toast eines Gastes auf die Erinnerung
aufgebracht aus, habe es sich ihm eingeprägt,
habe längst die Person verändert und lebe so,
produktiv, noch über die Gegenwart hinaus.
Kenntlich ist dies Kriterium der Produktivität auch in Goethes
Beschäftigung mit seinen älteren
Lebensverhältnissen, wenn er sich von unausgeführten,
steckengebliebenen, aber noch
wiederzubelebenden Vorhaben berühren
läßt, wenn ihn etwa die Lektüre seines Briefwechsels
mit Schiller 1826 zur Wiederaufnahme seiner
Jagd-Novelle anregt oder er in Erwartung eines
Abgusses des Antinous von Mondragone
1828 mit dem Diktat seines Zweiten Römischen
Aufenthalts beginnt. Sehr genau weiß er
außerdem um die prekäre umprägende Tendenz
des Erinnerungsvermögens, das immer
auch vom gegenwärtigen Urteils- und
Vorstellungsvermögen lebt. Er hat dies ja im Titel Dichtung
und Wahrheit programmatisch bedacht und
im Brief vom 17./27.1829 an Ludwig I. von Bayern, der etwas
naiv auf Goethes römischen Spuren zu wandeln
suchte, noch einmal deutlich auseinandergesetzt.
Und
dennoch, bei aller kühlen und selbstbewußten Wachsamkeit wird
Goethe zunehmend von den eigenen Erinnerungen
bedrängt. Anders als die - immer selteneren -
Erinnerungsappelle in Briefen an alte
Vertraute, die im Bewußtsein des gemeinsam
Durchlebten noch Kraft und Trost spenden können,
scheinen die ureigenen, mit niemandem mehr
geteilten Erinnerungen die
Vereinsamung zu verstärken. Besonders in den Briefen
und Gesprächen der zwei, drei letzten Lebensjahre
tauchen sie dichter denn je auf, Erinnerungen an
das Puppentheater, das er mit etwa vier
Jahren von seiner Großmutter geschenkt bekam, an die
pedantische Betreuung seiner ersten
kleineren Arbeiten durch den Vater, das Konzert des
sechsjährigen Mozart 1763, an den zur
Abschreckung aufgesteckten Kopf eines
Frankfurter Aufrührers, Erinnerungen an
seinen Haß auf die »Prachtschnörkel« des Rokoko,
seinen musikalischen Enthusiasmus in
der Leipziger Studentenzeit oder an den Frankfurter
pietistischen Zirkel um Susanna Katharina v.
Klettenberg. Solche Einzelerinnerungen,
denen sich noch viele andere zum neu
entstehenden 4. Teil von Dichtung
und Wahrheit zugesellen
und die bis in die erste Weimarer Zeit herüberreichen,
hätten nicht diesen irritierenden zwanghaften
Charakter, wüßte Goethe sie wie bislang
unproblematisch der eigenen zusammenhängenden
Lebensgeschichte einzugliedern. Dieser
innere Zusammenhang der einzelnen Lebensabschnitte
scheint ihm aber verlorenzugehen. Befremdet
und verstört spricht er von dem »Wunderlichen«oder
»Wunderbaren« seiner früheren
Lebenszustände, die er in einem kaum noch
zu überbrückenden Zeit- und Erfahrungsabstand
zu sich selbst wahrzunehmen
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