BILDER FONTANES GEGEN DEN TOD. VOM VERSTECKSPIELEN ZUM KRYPTISCHEN ERZÄHLEN
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Repräsentiert
wird dieser Obrigkeitsstaat durch Lehnerts persönlichen
Widersacher, den schikanösen und eitlen Förster
Opitz ("Unterschiede müssen sein, Unterschiede sind Gottes
Ordnungen"),22
durch den beschwichtigenden Pastor Siebenhaar,
in dessen Studierstube Lehnert das noch von der Konfirmation
her bekannte Arrangement vorfindet ("Das
Christusbild, mit Friedrich Wilhelm III. und dem
Kronprinzen zur linken und Rechten")23
und durch preußische Funktionseliten wie diesen
Präsidenten, der seine Nichten regelmäßig zu
Weihnachten und zu Kaisers Geburtstag beschenke.24
Schon in der Anfangsszene, in der Opitz aufreizend dekoriert aus
dem für ihn günstig verlaufenen Gottesdienst
heraustritt, tritt
Menz seine rebellische Christus-Nachfolge im Zeichen des
Kreuzes an:
Es ist das Eiserne
Kreuz, das Opitz ihm einst verweigerte und das über
allerlei Redensarten und Anspielungen allmählich
Lehnerts Passionszeichen wird:
"Wenn
er nicht war, so hätt ich das Kreuz ... Immer hat er mir den Weg
gekreuzt. Hol ihn der Teufel!"25
"Um das Kreuz hat er mich gebracht, aber mein Haus- und
Lebenskreuz war er von Anfang an."26
Mit dem Anpredigen in der Kirche habe Pastor Siebenhaar
erreichen wollen, so einer von Lehnerts Kameraden, "daß
er zu Kreuze kriecht", und mit ebendieser Formel
aus der Karfreitagsliturgie beschreibt Opitz vor dem
Ohrenzeugen Lehnert dessen erklärte Bereitschaft,
einzulenken.27
Lehnert selbst betrachtet sich nach der Bluttat als
das "Werkzeug" göttlicher Vorsehung.28
Drüben, in der amerikanischen
Mennonitengemeinde, trifft er auf sein französisches Alter ego,
den entflohenen Kommunarden L'Hermite,
der einst den Pariser Erzbischof erschießen ließ und
nun von einer Gestalt "mit dem Kreuz auf der Brust"
heimgesucht wird (Menz setzt diese Erscheinung
mit der seines Opfers Opitz gleich); auch hat L'Hermite auf
einer Kirchenfahne Christus mit der
Physiognomie des Verräters Judas
Ischarioth dargestellt und will eines Tages ein Altarkreuz
zur Anrufung des Geistes der Revolution
zweckentfremden.29
Wenn Menz dann unter der Last einer Weihnachtstanne
wie ohnmächtig zusammenbricht und später
seiner von einer Kreuzotter ins Handgelenk gebissenen
Freundin "leidenschaftlich" das Gift
aussaugt, dann hat schon seine eigentliche
Passionszeit begonnen. Lehnert
Menz, der von seinem Vater das Handwerk des
Schreiners und Stellmachers übernommen hat,
findet im Alter von 33 Jahren30
seinen qualvollen Tod, dürstend und
bewegungslos, gebannt auf den
querbalkenförmigen Plateaurand des steil
ansteigenden Bergkegels "Look out".
Wie Jesus nach den Worten des Johannes-Evangeliums
("»Es
ist vollbracht!«
und
neigte das Haupt und verschied") stirbt er
hier seinen Stellvertretertod31:
"»Ich
bin fertig ... Ich komme.« Und nun fiel er mit dem Kopf
auf das Lager zurück".
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22
N
VI, 2 23
N
VI, 10. Christus
wie zwischen den beiden Schwerverbrechern auf Golgatha! Auch dies
eine verschlüsselte Charakterisierung
der Zwangslage von Lehnert Menz selbst.
24 N VI, 95 25 N VI, 13 26 N VI, 65 27 N VI, 19, 53 28 N VI, 75 29 N VI, 201, 139, 123,
142 bzw. 140 und 151
30 N VI, 121 31
N VI,
209. Als
Toby den Leichnam des Verunglückten findet, heißt es: "Der da
lag, war gestorben um ihn,
um seinetwillen" (N VI, 212).