MERLIN ODER DER ALTE GOETHE
DIE LETZTEN JAHRE (1823-32)
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Sich
selbst mag Goethe nicht mehr verteidigen, schon gar nicht öffentlich.
Als seine Widmung des Briefwechsels mit Schiller an Ludwig
I. von Bayern eine peinliche Berichtigung
durch eine Zeitungsanzeige des preußischen
Staatsministers v. Beyme erfährt und Schillers ehemaliger
Freund Niethammer Goethe zu einer Replik drängt,
beschämt er den Philosophen durch die gelassene
Erläuterung
seiner Altersmaxime, an keinem Streit
mehr teilzunehmen und vielmehr das, »was an mir noch zu
berichtigen möglich ist, zu berichtigen«
(21.5.1830 an den Mittelsmann F. v. Müller). So erhält auch
Schubarth am 10.5.1829 auf die Zusendung seiner
Streitschrift gegen Hegel die beschwichtigende Auskunft,
»daß die polemischen Richtungen bei mir
immer schwächer werden und sich nach der inneren
Einheit zusammenziehen«. Ein
Rückzug aus fruchtloser Selbstbehauptung
zugunsten der eigenen Lebenswahrheit.
Das
kann wie im Falle seiner Auslegung der
aristotelischen ›Katharsis‹ 1829/30 so weit gehen, daß
Goethe die kritischen Einwände gar nicht mehr als
solche diskutiert, sondern daran festhält, daß seine These für
ihn selbst förderlich ist. Wobei sich auch hierzu die
generöse Verallgemeinerung etwa in den Maximen
und Reflexionen
(460) findet, daß ein jeder nach seiner eigenen
Weise zu denken habe und so –
freilich bei gebotener Selbstkritik –
immer ein Wahres finden werde. Ein
Wahrheitsbegriff, der den Positivismus der
Einzelbehauptungen relativiert und auf die tieferliegenden
und deshalb auch gründlicher trennenden
Denkweisen, ihre Rechte und Gefahren aufmerksam macht. So
sehr er den Rückzug aus dem Meinungsstreit und
zugleich die Toleranz abweichender Ansichten
begünstigt, so leicht kann er doch auch über die
distanzierte Haltung hinaus zu resignierter
Skepsis führen. »Ich kann eigentlich mit niemanden mehr über
die mir wichtigsten Angelegenheiten
sprechen, denn niemand kennt und versteht meine Prämissen«,
erklärt er am 5.4.1830 dem Kanzler v. Müller. »Zu
meinen eigenen Überzeugungen find ich
keine Gesellen«, begründet Goethe am 17.1.1831 Zelter
seinen Verzicht, die ihn so faszinierende Römische
Geschichte
Niebuhrs, d. h. genauer und bezeichnender: Niebuhrs
Denk- und Forschungsweise, mit Männern vom Fach
zu erörtern. Es ist das
in seinem Alter sich verstärkende
Lebensgefühl einer fundamentalen
Unzeitgemäßheit seiner Grundsätze
und bedeutendsten Einsichten,
das Goethe immer mehr davon abhält, noch
Einfluß auf seine Zeitgenossen zu nehmen.
Schon
die Mitteilung des Geschriebenen wird ihm zunehmend
problematisch, besonders bei seinen personenbezogenen
Ausfällen und Expektorationen,
die er nicht aus dem Briefkonzept in die Reinschrift übernimmt.
Allgemeine Klagen wie über den Zeitcharakter
oder die Verfassung der deutschen Literatur, Kunst und
Naturwissenschaften läßt er noch
passieren, bittet dann aber meist –
ein Stereotyp seiner Altersbriefe
–
den Adressaten dieser Briefe dafür um
Verzeihung. Wie unangenehm es ihm wirklich war, sei
dahingestellt; zumindest bei jenen
Briefpassagen, die er unterdrückte und doch qua Briefkonzept
aufbewahren ließ, wird man an die Erklärung
denken dürfen, die er im Mai 1828 einmal Soret für das
Sekretieren seiner jüngsten Xenien
und Invektiven gab, sie nämlich zu seiner
persönlichen stillen Genugtuung niedergeschrieben
zu haben und sie für später, falls sie dann noch
aufschlußreich seien und den Gegner nicht mehr verletzen
könnten, seinen Nachlaßherausgebern
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