DEBAKEL DER »PARALLELEN«-BEWEISFÜHRUNG. BANALISIERUNG DURCH SCHILLEMEIT
________________________________________________________
Ohne
Berücksichtigung der literarischen Entwicklung läßt sich außerdem
jede Parallele zu beliebigen Spekulationen
einsetzen; für die Datierungsfrage war dies besonders an
den drei Parallelen zur 15. Nachtwache zu sehen (S.
80f.). Die Manipulierbarkeit erfolgt
unmittelbar aus dem Sachverhalt, daß die Parallele
auf dem niedrigsten, buchstäblichen Sinn-Niveau am stärksten
zu überzeugen vermag, also im Zusteuern auf den
allerengsten Bedeutungshof, wobei denn die
schöpferische, intellektuelle
Ausarbeitung solcher Kernzonen in der Regel gar
nicht mehr in Betracht kommt (so wenig, daß etwa die für
Schillemeit so wichtigen Anfangsparallelen
zum »Chor in der Tragödie« eklatante Sinnabweichungen
enthalten). Selbst da, wo die Intention nicht entstellt
oder gebrochen erschien, war durchweg Erfrischenderes bei
Klingemann herauszufinden, der sowohl
gegenüber dem eigenen Werk (etwa beim Motiv des
Sonnenadlers oder bei der Figur des Hanswurstes)
als auch gegenüber dem Werk anderer (Hogarth, Jean
Paul, Fichte, Schiller) weit respektloser,
variationsfreudiger und auch
beharrlicher verfahren ist, als es in dem
Gestus der Zitatparallele behauptet wird.
So ist
es der mechanische Umgang mit den Parallelen, zu dem nicht allein die
erwähnte tödliche »Reflex«-Terminologie
beisteuert, sondern auch die weitere technizistische Einstellung, in
der Schillemeit von der Bonaventura-For-
--------------------------------------------------------------------------------------------
fremdend wie sein
Einfall, ausgerechnet mein Rohmanuskript von 1973 - das im
methodischen Widerspruch zu allen Parallelenanhäufungen
mit einem »Exklusionsverfahren« operiert - als »Parallelensammlung«
zu charakterisieren.
Apropos:
Wenn man jetzt darüber klagt, daß jenes Rohmanuskript
relativ schwer zugänglich ist, so
darf ich versichern, daß dies weniger an meiner Freude am
Versteckspiel gelegen hat, als vielmehr am Mangel an Weitsicht und
auch Courage bei einigen unserer Fachzeitschriften, denen
es mit Erläuterung der Entdeckungsgeschichte vorgelegen
hatte. Die Furcht, sich dabei in Prioritätsstreitigkeiten
verwickeln zu lassen, war um so weniger begründet, als schon damals
nur von »sich überschneidenden«, also voneinander
unabhängigen Entdeckungen bei mir die Rede war, dies, um mit allem
Nachdruck die unterschiedlichen Verfahren
der Identifizierung und damit auch die unterschiedliche
Einschätzung der Identität Klingemanns
herauszustellen. Kann man die Bedeutung dieser Überschneidung,
die subjektiv zwar betrüblich war, in der Sache aber
unschätzbar ist, denn wirklich nicht kapieren? Die
»Priorität« jedenfalls, um dies noch klipp und klar zu sagen,
kommt selbstverständlich der Erstveröffentlichung
der Klingemann-These, also Jost Schillemeit zu.
Postskript
Juli 2011:
Daß die Klingemann-These mittlerweile (1987) auch durch den
Amsterdamer Archivfund von Ruth Haag bestätigt wurde (vgl. S.
106),
demzufolge Klingemann die 'Nachtwachen' in sein Werkverzeichnis
aufnahm, dürfte die ohnehin äußerliche Prioritätsfrage
entschärfen und den Blick wieder für die relevantere
Methodendiskussion freimachen.
Nicht nur geht es hierbei um die unterschiedliche Tauglichkeit
philologischer Beweisführung bei der
»Identifizierung« eines Autors, sondern
auch um die Tiefendimensionen persönlicher Identität.
- 47 -