Der umschlagende Vergleich von Kreuzgang: »... oder wie ein einzig Übriggebliebener nach einer allgemeinen Pest oder Sündfluth« scheint dem Erwachsenen näher zu kommen. Klingemann gebrauchte ihn beiläufig schon 1799 und wird ihn breiter 1829 ausführen, als er bei der Durchreise durch Kassel sich der Zeiten Jeromes, des »entnervten Lüstlings in der phantastischen Pracht eines Theaterkönigs« entsinnt und pointiert mit dem Anblick der vordem so belebten Wilhelmshöher Anlagen schließt:
»Als ich bei meiner Heimkehr mich noch einmal umsah und zum Herkules hinaufblickte, welcher von seiner Wolkenhöhe stumm und ernst in die öde Gegend herabschaute, in welcher die Wasser ruheten, die Tritonen schwiegen, und kaum ein einzelner Fußtritt wiederhallte, da kam es mir vor, als sei die Pest dadurch hingezogen und habe ein entartetes Geschlecht hinweggerafft.«28
Der Vergleich spricht gezielt den korrumpierten Hofstaat um 1808 an. Sprachlich mag sich hierin zwar ein Wiederaufleben der Nachtwachen-Szene abzeichnen, über Kreuzgangs erstes, jäh verdüstertes Auftreten aber klärt der Vergleich selber nicht auf.
... »nach einer allgemeinen Pest oder Sündfluth.« Ob der Wortgebrauch (»oder«) hier nun synonymisch ist oder nicht, ein sintflutgleiches Bild jedenfalls ist nicht lange vor Beginn der »Nachtwachen« schon einmal von Klingemann inszeniert worden, nicht an beliebiger Stelle, sondern zum Auftakt des Pasquills »Freimüthigkeiten«. Hanswurst tritt hier im »Prolog« folgendermaßen auf:
»(Die Szene stellt ein Theater dar. Es ist ganz dunkel, der Vorhang niedergelassen und kein Mensch zugegen.) Arlequin tritt auf, er hat sich in einen rothen Mantel gehüllt, unter dem er eine brennende Laterne hervorzieht.«29
Ist dies nicht eine Vorform des Debüts unseres Nachtwächters, wie er sich sogleich vermummt (»ich hüllte mich in meine abenteuerliche Vermummung«), um in feindlicher Umgebung zu überstehen? Und wie bei Kreuzgang folgt nun auch in Harlekins Prolog der desillusionierende Rückblick (»Denn mein altes Reich wieder zu gewinnen/ Dazu stehen die Sachen zu schlecht«), der sich aktuell als Schauder vor dem Kotzebueschen Theatertreiben ausdrückt:
»Zum Teufel, wie sieht das hier aus,/ Es gleicht schier einem Invalidenhaus;
Und überall ein so fataler Dunst –/ Gehört der zur neuesten Kunst?
Meine Laterne droht davon auszugehn,/ Auch scheine ich bis an die Kniee im Wasser zu stehn;
Alles ist wie in ein Meer versunken/ Und dort liegt gar der Soufleur ertrunken!
Zur Grabschrift ruht auf dem Kasten, bei meiner Treue,
Der Anschlagezettel von Menschenhaß und Reue!«30
Es sieht doch wirklich so aus, als wäre neben dem »fatalen Dunst« es besonders dieses spottlustige Eingangsbild der Kotzebueschen »Thränenfluth«-Wirkung, das zu dem »Sündfluth«-Vergleich der »Nachtwachen«-Eröffnung angeregt hat, ja, das nun zur Fortsetzung des Kampfes wieder aufgeboten wird. Wie denn überhaupt der Nachtwächter in dieser Szene als Nachfolger von Harlekin erscheint, die Außenseiter-
--------------------------------------------------------------------------------------------------
28 August Klingemann, Kunst und Natur (a.a.O.), Bd. 1, S. 32ff.
29 August Klingemann im »Prolog« zu seinen anonym erschienenen Freimüthigkeiten. Ein Seitenstück zu den Expektorazionen (Abdera <Lüneburg> 1804). 30 Freimüthigkeiten, a.a.O., »Prolog«
- 27 -