LITERARISCHER VAMPIRISMUS. KLINGEMANNS ›NACHTWACHEN. VON BONAVENTURA‹
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nächtliche
bewegte Bild die Reflexion des Helden, der sich im Übergang zu
einem neuen ungeschützteren Leben weiß und
der, um Abstand zu gewinnen, sich einem Selbstbildnis
seiner Vergangenheit zuwendet. Für
Romano ist es noch ein im Rosenkranz verborgenes,
wie übermaltes Porträt, für Cesareo,
psychologischer, das Erinnerungsbild unbeschwerterer
Tage und für Kreuzgang die lange Standrede
an den Poeten als an ein versunkenes alter ego.
In den »Nachtwachen« hat sich diese
Reflexion am stärksten emanzipiert,
und doch, in ihrer naturmagischen Bindung
verrät sich gewissermaßen ein Atavismus
des Verfassers, ja, Kreuzgang selber ist davon
mitbetroffen, tritt gar nicht professionell
mit Selbstbewußtsein in den Raum der Nacht hinaus
und schlägt eher wie ein Ausgestoßener das
»Kreuz gegen die bösen Geister«. Seine
unsicheren Empfindungen münden in
ein großes Vergleichsbild:
»Es war mir schon
recht, und ich freute mich über meinen einsam wiederhallenden
Fußtritt, denn
ich
kam mir
unter den vielen
Schläfern vor wie
der Prinz im Mährchen in der bezauberten Stadt,
wo eine
böse Macht
jedes lebende Wesen in Stein verwandelt hatte;
oder wie ein einzig Übriggebliebener nach
einer allgemeinen
Pest oder Sündfluth.
Der letzte Vergleich
machte mich schaudern ....«
Diese plastische
Assoziation ist neu gegenüber den beiden anderen Romanen. Das sich
zuerst einstellende Bild scheint harmloser
und appelliert an eine kindlich-phantastische
Bewältigung der Krise. H. Michel meint die Geschichte
der Messingstadt in »Tausend
und eine Nacht«
angesprochen zu finden, doch sind die Lebewesen,
auf die dort der Emir trifft, nicht in Stein verwandelt. Wie auch
immer, spürbar wird hier ein frühes Vorbild für die
»Memnon«-Versteinerung
heraufgerufen.27
Der umschlagende
Vergleich: »... oder wie ein einzig Übriggebliebener nach
einer allgemeinen
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Eine Brücke zurück zu
Klingemanns Kinderzeit schlägt sein 1797 in Braunschweig
veröffentlichtes zweibändiges Ritterstück Die
Asseburg.
Das »historisch-romantische Gemählde« beginnt im Herzen
Braunschweigs:
»1256.
Braunschweig. (Platz vor dem Schlosse Dankwarderode. Links liegt die
Kirche des heiligen Blasius... In der Mitte des Platzes steht
auf einem Piedestale ein eherner Löwe, der vom Herzog Heinrich dem
Löwen errichtet wurde...«. Eine der beim Löwen postierten
Wachen: »Hier ist's so still, als wäre ganz Braunschweig
ausgestorben«. (Bd. 1, S. 15-18)
Klingemanns
Elternhaus
befand sich - Schritte nur entfernt, und wenn man heute zum erstenmal
von Papenstieg Nr. 5 her in den Burgplatz mit dem Dom einbiegt,
kann einem schon das Herz höher schlagen: Unvermutet bieten sich
einem die Lebenskoordinaten des
Erzählers der »Nachtwachen« dar, die räumlich ersten, mit denen
sich die Phantasiegebilde und Märchen ja so gern
verschwistern. Welch verwunschener Ort selber schon
mit dem wie versteinerten Löwen! Im biographischen
Schlußkapitel wird dies näher zu betrachten sein.
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