GOETHES LETZTES JAHRZEHNT. SEINE BRIEFKUNST
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Jene
unpersönliche »Leere« nun hat Goethe zunächst dadurch zu
bannen gewußt, daß er beim Diktieren oft den Gegenbrief oder
das eigene aufbewahrte Konzept wieder zur Hand genommen hat, kleine
präzise Anspielungen auf den Wortlaut beweisen
dies ebenso wie seine beliebten Sammelberichte an engere
Brieffreunde, Berichte von Ereignissen,
die den Zeitraum der Schreibpause nicht bloß überbrücken,
sondern in freundschaftlicher Rechenschaft
auffüllen wollen. Der Rückgriff auf die eigenen
Konzepte ermöglicht ihm ferner die Verbundenheit
bekundende Spannungstechnik, einen Brief mitten im
Satz (am Bogenende) abbrechen zu lassen, um
Tage oder Wochen später an der Bruchstelle anzuschließen.
Auch seine Schreibpausen gehorchen der Maxime
der Wahrhaftigkeit; wenn ein Briefwechsel von Dauer sein solle,
erklärt er so am 5.2.1832 Soret, dürfe vor allem
kein Zwang zur regelmäßigen Antwort bestehen. Bei der Antwort
selbst scheint er sich autosuggestiv in eine Gesprächssituation
versetzt zu haben; was sein Sekretär Schuchardt einmal
allgemein zu Goethes Diktaten bemerkte, eine ihm anfangs
unheimliche, zuweilen fast das Diktat sprengende
»Unterhaltung mit der unsichtbaren Gesellschaft,
seinen eigenen Kunstgebilden« (Bericht Nr. 919)1),
das muß für diese Briefe verstärkt gegolten
haben: »Während ich diktiere, denke ich mir die Person, an die
ich schreibe, als gegenwärtig, überlasse
mich naiver Weise dem Eindruck des Moments und meinem Gefühl;
später aber vermisse ich jene Gegenwart
und finde nun manches absurd und unpassend für den Abwesenden«,
erläutert er im Gespräch vom 11.1.1830 dem Kanzler
v. Müller sein Zaudern mit der Absendung so mancher
Briefe.
Ebendieser
hohe Respekt vor dem persönlichen Charisma des Briefs und auch
Gegenbriefs hat nicht nur die Absendung gefährdet, er
scheint paradoxerweise auch die Autodafés
begünstigt
zu haben, die Goethe von Zeit zu Zeit zu veranstalten pflegte.
Dem Kanzler begründet er dies am 18.2.1830 damit, daß ja doch
niemand viel aus alten Briefen lerne; was »gut in den Briefen
gewesen, habe seine Wirkung schon auf den Empfänger
und durch ihn auf die Welt schon vollendet; das übrige falle
eben ab wie taube Nüsse und welke Blätter. Alles
käme darauf an, ob Briefe aufregend, produktiv,
belebend seien«, und zwar produktiv auch für den
Schreibenden selbst (Gespräch vom 24.4.1830).
Bedenkt man nun, daß die uns bekannten älteren
Autodafés
von
Briefschaften Goethes in Situationen des Abschieds (von
einer Lebensphase) fallen - zu Beginn des Studiums
1765 in Leipzig, 1786 vor der Abreise nach Italien, 1797 vor der
als Italienfahrt geplanten Schweizerreise -,
so wird man die Tatsache, daß er in den letzten
Lebensjahren ab 1827/28 mindestens viermal
Briefschaften (darunter eigene Jugendbriefe)
vernichtet hat, auch als konstruktiven Akt, als Einübung
in den eigenen Tod ansehen müssen, als
Bedürfnis, die Gewalt der falsch angewachsenen
Lebensdokumente zu brechen und das
Erinnernswerte
neu festzulegen.
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1) Solche
Numerierungen beziehen sich auf Bd. 37 und 38 der Goethe-Ausgabe im
Deutschen Klassiker Verlag (vgl. Vorbemerkung bei S.
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