Nun
freilich unausgeglichen, oft in schwindelerregender Folge tagespolitische
Ereignisse, literarische Neuerscheinungen, lokale amtliche Verhältnisse und
Skandale mit abgerissenen Äußerungen Goethes mischend, dann wieder konzentriert
und eindringlicher, wobei Müller vor allem aus Goethes früher Weimarer Zeit,
zum Kreis um die Herzogin Anna Amalia, zum Tiefurter Leben, zu Ilmenau und
seiner Amtstätigkeit oder zur Entstehung seiner Werke so manches
hervorzulocken versteht. Was denn doch ebenso wie die Vertrauensakte der
letzten Jahre - der Kanzler überbringt Goethe die Nachricht vom Tode seines
Freundes Carl August wie seines Sohnes August und wird zuletzt zu seinem
Testamentsvollstrecker ernannt - eine tiefere Zuneigung hinter den
streitlustigen Äußerungen Goethes beweist. Auch bei Müller; wie sonst
könnte er - und wer sonst? - in der Unterhaltung vom 21.5.1829 wieder
einmal einen Tadel Goethes über die »Improprietät« seiner Ausdrucksweise
kommentarlos einstecken und gleich darauf notieren: »Mit Schmerz bemerkte
ich, wie seine Augen immer mehr umgrauen, die Pupille verknöchert«?
Grundlage dieser von 1812-32 reichenden Unterhaltungen mit Goethe waren
oft nur stichwortartige Tagebuchnotizen, die Müller meist schon in den
nächsten Tagen ausführte. Erst 1835/36, nach der Lektüre des Manuskripts von
Eckermanns Gesprächen mit Goethe, scheint er ernstlich an eine
Veröffentlichung gedacht zu haben, überarbeitete erneut die schon
ausgeführten Unterhaltungen und trug im März 1836 ausgewählte Partien der
Weimarer Hofgesellschaft vor. Vorbehalte der Großherzogin Maria Pawlowna
bewogen den Kanzler jedoch zum Verzicht auf die Publikation seiner Unterhaltungen
(die erstmals 1870 in sehr unzulänglicher Gestalt von dem Weimarer Archivdirektor
C.A.H.
Burkhardt ediert wurden).
Haben Müllers Gespräche ihren Höhepunkt in den Jahren 1823-27 und dann noch
einmal 1830, so die Conversations avec Goethe des
Prinzenerziehers Frédéric Soret erst etwa ab 1828, als er Dispens zu regelmäßigem
Nachmittagsbesuch bei Goethe erhielt und mit der Übersetzung für die
geplante deutsch-französische Parallelausgabe der Metamorphose
der Pflanzen begann; besonders wichtig werden sie 1830/31 im Schatten der
französischen Julirevolution. Zwar zeichnete er schon seit dem
September 1822, Wochen nach seinem Eintreffen in Weimar, die ersten
Gespräche auf und gehörte bald auch zum engeren Kreis um Goethe, doch blieb
ihr Umgang lange Zeit noch durch naheliegende praktische Interessen und
Erwartungen bestimmt. Sorets Lebenslauf war interessant genug: 1795 am
Petersburger Hof als Sohn eines aus Genf stammenden Email- und Miniaturmalers
geboren, der mit seiner Familie 1800 wieder nach Genf zurückkehrte; Abbruch
des theologischen Studiums 1819 nach kirchlichen Maßnahmen gegen seine
aufmüpfige Dissertation über die Schöpfungslehre, um in Paris Geologie,
Mineralogie und Physik zu studieren. Schon hatte er sich 1822 durch eine Reihe
von mineralogischen Abhandlungen einen Namen gemacht, als er auch aus dieser
Laufbahn geworfen wurde: Die Weimarer Erbgroßherzogin Maria Pawlowna
ließ in der Familie von Sorets Mutter nach einem Erzieher für den 4jährigen
Weimarer Erbprinzen Carl Alexander suchen, nur Soret, Patenkind
Maria Feodorownas, kam dafür in Frage und nahm schweren Herzens die 14 Jahre
dauernde Aufgabe an.
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