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Selbstverständlich
entscheidet auch die Vertrautheit mit Goethe, Regelmäßigkeit und
Art des Umgangs über Wert und Glaubwürdigkeit eines
Gesprächsberichts. Wenden wir uns deshalb noch den beiden
wichtigsten Zeugen unseres Zeitraums – einmal
abgesehen vom Sonderfall Eckermann, vgl. S.
679f.2) – zu, dem Weimarer Kanzler Friedrich v. Müller und dem
Prinzenerzieher Frédéric
Soret.
Müller,
dreißig Jahre jünger als Goethe, hat einige biographische
Parallelen:
ein Bürgerlicher, der die Rechte studierte, in weimarische
Dienste trat, nach erfolgreichen
Friedensverhandlungen mit Napoleon 1807
geadelt und 1815 Weimarer Minister der Justiz
(»Kanzler«) wurde. Eine Basis der
Verständigung, die noch durch literarische
Meriten
(Müller übersetzte Byron, ging Goethe als
Übersetzer aus dem Französischen zur Hand und
drang beharrlich auf die Niederschrift seiner
Unterhaltung mit Napoleon) und durch seine
Funktion als Verbindungsmann Goethes
mit dem noch für Frankreich tätigen Diplomaten
Graf Reinhard gefestigt wurde.
Interessant
wird ihr Verhältnis eigentlich erst durch einen
Generationenkonflikt,
indem der Kanzler viel von dem ›Veloziferischen‹
besaß,
das Goethe als Stigma des Zeitgeistes besonders dubios, verhaßt oder
unheimlich war. Im Brief vom 26.12.1825 an Reinhard macht
er unter dem genannten Stichwort eine kritische Anmerkung
zur »Viel- und Schnelltätigkeit« Müllers, ein
andermal stellt er ihn als unverbesserlichen Optimisten
hin oder wirft ihm unter vier Augen seine
Leichtfertigkeit sowie das Heranziehen von zu vielen
verwässernden Nebenargumenten
vor; Müller selbst erwähnt einmal seine assoziative
Gesprächstechnik. Welch ständige
Provokation diese Eigenschaften, zu denen
sich wie bei Alfred Nicolovius noch ein Hang zur Indiskretion
gesellte, für Goethe gewesen sein müssen, deuten
Beobachtungen Dritter wie Sorets und
Stackelbergs an, wonach der Kanzler von Goethe
derb zurechtgewiesen oder ostentativ mit
Mißachtung gestraft wurde. Müllers
Unterhaltungen
verraten davon
in dem wie zwanghaften Ritual, zu Beginn oder
Ende des Gesprächs häufig eine emotionale
Grundcharakteristik zu geben, ob sich
Goethe eher »wohlwollend«, »mild«,»redselig«
und »treuherzig« verhielt oder wie so oft »negierend«,
»persiflierend«, »einsilbig«,
»ironisch«, »sehr heftig <...> ja unartig«.
Wie
bei keinem anderen erleben wir Goethe
im Zorn.
Auch wenn Müller mitunter gar nicht verschweigt,
daß er Goethe durch eine unbedachte oder
leichtfertige Äußerung aufgebracht
hat, so wäre doch auch bei manch anderem schroffen und
absprechenden Urteil Goethes diese
Gereiztheit mit zu veranschlagen und eine
entsprechende Gegenbehauptung des Kanzlers
zwischen den Zeilen zu lesen.
Seiner
unbekümmerten Wendigkeit, Neugierde und seinen »mitteilenden
Gesinnungen« (so Goethe) verdanken Müllers
Unterhaltungen eine thematische Breite, die uns allenfalls noch
Goethes Briefwechsel mit Zelter bietet.
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2)
Auch
solche Seitenzahlangaben beziehen sich auf Bd. 37 oder 38 der
Goethe-Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag (vgl. Vorbem.
bei S. 1). Auf den angegebenen Seiten begründe ich, warum Eckermanns
Gespräche
mit Goethe nicht
in die vorliegende Gesprächsauswahl
einbezogen, sondern in einem eigenen Band der der Ausgabe
dargeboten werden.