GOETHES LETZTES JAHRZEHNT. ›WARTE NUR, BALDE ... ‹
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Bd. 38 der Frankfurter Goethe-Ausgabe, hg. v. Horst Fleig, a.a.O. (s. Anm. S. 1), Abb. 14
Wenige Tage nur vor
seinem Tode, in drei großen Briefen vom 10. bis
15.3.1832 an W. Zahn, Zelter und C. B. Cotta führt
Goethe jene beiden verschütteten Lebensbereiche zur
Veranschaulichung seiner eigenen Situation
sukzessive zusammen.
Bei Zahn bedankt er sich für die Zusendung des Grundrisses der
pompejanischen, zu Ehren seines
verstorbenen Sohnes so genannten ›Casa di Goethe‹
sowie für eine Zeichnung des unlängst dort
freigelegten Alexandermosaiks.
Seine Deutung des Mosaiks konzentriert sich auf den
psychologischen Moment, der Darius'
Niederlage besiegele, der sich zur
Flucht wende, als er seinen Bruder von Alexanders
Lanze durchbohrt sieht, »in dem Seinigsten
überwunden«, »sich vor der unmittelbaren Gefahr
weniger als über den Untergang seines Getreusten
entsetzt« (ein solches Motiv gerade in der ›Casa di
Goethe‹!). Intuitiv zieht er sogleich eine –
von
Kunsthistorikern inzwischen bestätigte
–
Verbindungslinie hin zu Raffaels
Konstantinsschlacht,
eine
Interpretation, die das Freigelegte
zur Entdeckung anderer verschollener
Zwischenüberlieferungen einsetzt.
Er beschließt seine Auslegung mit einem
Hoffnungswort für künftige Ausgrabungen:
»der echte Sinn wird bei sukzessiver Entdeckung
echter Gegenstände gewiß erhalten und
in echten Menschen zur gelegnen Zeit fortleben und
wieder aufleben«. So, unter diesem
dreifachen Vorbehalt der Echtheit, könnte
Goethe es auch von seinem versiegelten Faust-Manuskript
gesagt haben (das er denn vermutlich doch noch
illusionslos »von dem Dünenschutt der Stunden
zunächst überschüttet« sah).
Im
Brief vom 11.3. an Zelter spricht er zum ersten Mal von der
Vergleichbarkeit
der pompejanischen Funde und der sich um ihn her lagernden
Fossilien (in
deren Zeitendunkel sich zu versenken einen wahnsinnig machen
würde). Und zieht dann einen höchst emotionalen Vergleich im
Schreiben an C.B. Cotta, einen Kandidaten an der
Freiberger Bergakademie, der ihm Schriften und Zeichnungen
zu versteinerten Bäumen zugesandt hatte: Die
beglückten und doch immer auch schmerzlichen Empfindungen
angesichts der ausgegrabenen antiken Artefakte
ähnelten den Empfindungen beim Anblick dessen, »was
in der Urzeit allgemeinere unbegreifliche
Naturwirkungen in einer großen
Weltbreite niedergeschlämmt, niedergedrückt und verschüttet,
damit wir von verschwundenen Organismen
genugsam erführen, welche in der Vornacht der Zeiten
doch auch das Tageslicht und seiner Wärme
genossen, um kräftig und fröhlich zu leben und sich
auf das gedrängteste zu versammeln«. Wer
hat je mit solch brüderlichem Mitgefühl von
Fossilien und ihrer Opferung für die Erkenntnis
gesprochen?
Seine Bitte an Cotta, ihm gelegentlich
von seiner weiteren Entwicklung zu berichten,
schließt Goethe mit der zarten Einschränkung,
»insofern ich noch einige Zeit auf der
wunderlichen Erdoberfläche verweile«.
Seine
Identifizierung mit den aus dem Leben gerissenen und verschütteten
Relikten hat sicherlich ein
verstecktes Tertium comparationis. Es ist das Schicksal
seines Sohnes August,
der noch bei der Freilegung dieser pompejanischen
Villa im Oktober 1830 zugegen war und dem Goethe schon seit längerem
seine paläontologische Samm-
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