MERLIN ODER DER ALTE GOETHE
DIE LETZTEN JAHRE (1823-32)
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Bildquelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sulpiz_Boisser%C3%A9e.jpg
Nun
gab es immerhin schon nach Veröffentlichung der Helena
einige erfreulich verständnisvolle Stimmen. Warum teilte er
nicht wenigstens seinen engeren Brieffreunden das Faust-Manuskript
teilweise oder sukzessive in Abschriften
mit? Wäre dies für ihn schon ein Verstoß gegen die
strenge, ja zeremonielle Verknüpfung dieses
Manuskripts mit seinem Lebensende und poetischen Nachleben
gewesen? Über den zeremoniellen Charakter
gibt uns der kryptische Schluß seines Briefes vom
24.11.1831 an Boisserée nähere Auskunft. Nachdem er
diesen über die »noch einige Jahre« währende
Versiegelung des Manuskripts mit dem Hinweis hinwegzutrösten
suchte, daß die daran interessierten
Freunde doch alle jünger als er selber seien, schließt Goethe
mit dem folgenden »Geschichtchen«: Als er sich
einmal in einer thüringischen Landstadt nach einer
bedeutenden Sehenswürdigkeit
erkundigte, habe man ihn auf ein soeben
errichtetes sehr schönes Friedhofsmonument
aufmerksam gemacht; ein vor 50 Jahren
verstorbener »Ehrenmann« habe damals
testamentarisch bestimmt, daß seinem Kapital all die Jahre über
die Zinsen zugeschlagen werden sollten, um
dann von einem vorzüglichen Künstler dieses »dem
antiken Geschmack sich nähernde«
Monument ausführen zu lassen. Er, Goethe,
habe das Monument bewundert und begriffen, daß es dem
Verstorbenen »eigentlich nicht um Ruhm,
sondern nur um ein heiteres Andenken zu tun war«. Wir können
in dieser Geschichte, die schon Boisserée
vage als »Parabel« auffaßte, deutlich genug
Goethes Beziehung zu dem Faust-II-Manuskript
wiedererkennen, dem Werk, das ja die Aussöhnung
der Moderne mit der Antike sucht und, wie
Boissereé soeben vernahm, mit »ernst gemeinten Scherzen«
den Freunden Spaß bereiten sollte. Als sein
Vermächtnis aber möchte Goethe es zugleich
zurückbehalten, für ein gereiftes Verständnis,
das nicht mit dem Zeitpunkt der erwarteten
Veröffentlichung »in einigen Jahren« oder der
faktischen im ersten der Nachlaßbände
1832 zusammenfallen müßte. Und nehmen wir die
Grabmal-Metaphorik ernst, so läßt sie die weitere
lebensgeschichtliche Auslegung zu,
daß
es sein
Thema
ist, das von seinen literarischen Anfängen
an lebendig gebliebene, das er nun als
unzeitiges mit ins Grab nimmt.
Daß sich Goethe hier also aus der Gegenwart
zurückzieht, um später eigentlich erst
präsent sein zu können. Merlin
weiß sich schon im leuchtenden Grabe.
Vielleicht
läßt sich dieses Gleichnis so auch janusköpfig lesen, als
Rückdeutung zugleich auf die letzten 50 oder 60 Jahre, die
Goethe gern für seine Beschäftigung mit dem Fauststoff
veranschlagte, den er »als ein inneres Märchen« so
lange mit sich herumgetragen habe (8.9.1831
an Boisserée). Es ist die eigene Lebenstiefe und
schöpferische Unruhe, auf die hin die
Faust-Dichtung
den Blick wie kein anderes Werk öffnet und für die sie schon
aus diesem Grunde stehen kann. Hören wir hierzu nur
noch, wie Goethe auf Knebels Urteil, das
Helena-Zwischenspiel
sei ein wunderbares, magisches Dichtwerk, in seiner
Antwort vom 14.11.1827 eingeht; wie emphatisch er
bekennt, daß »dieses Werk, ein Erzeugnis vieler Jahre, mir
gegenwärtig eben so wunderbar vorkommt
als die hohen Bäume in meinem Garten am Stern, welche, doch
noch jünger als diese poetische
Konzeption, zu einer Höhe
herangewachsen sind, daß ein Wirkliches,
welches man selbst verursachte, als ein
Wunderbares, Unglaubliches, nicht zu
Erlebendes erscheint«.
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