MERLIN ODER DER ALTE GOETHE
DIE LETZTEN JAHRE (1823-32)
________________________________________________________________________________________
Bildquelle: ›Der Briefwechsel zwischen Zelter und Goethe‹ (3 Bde. Leipzig 1913-18), Bd. 2, bei S. 414
sein
Lebensgefühl und Denken gezeichnet. Zu
erkennen gibt dies zunächst die
gewaltige Faszination, die für ihn der Todesdämon
Charon in der Lyrik und bildenden Kunst gewinnt.
Das gleichnamige neugriechische Gedicht
hatte Goethe schon 1815 kennengelernt, aber erst im Dezember 1822 in
»einiger Vorahndung« übersetzt. Er pflegt es bald
Freunden vorzulesen und läßt es 1823 in Kunst
und Altertum
mit dem Wunsch nach einer bildnerischen Darstellung
abdrucken, eine Anregung, die Cottas
Morgenblatt
in Form einer Preisaufgabe aufgreift, der letzten, die Goethe
dann zusammen mit Meyer beurteilt. Ungeduldig
betreibt er die weitere Ausführung der preisgekrönten
Umrißzeichnung Leybolds, läßt sie derweil von
Schmeller in schwarzer Kreide kopieren, führt seine
Besucher davor und kündigt Zelter am
20.5.1826 eine ausschattierte Version an, damit
er die anmutige Wiedergabe dieses
»unerträglichsten Gedankens« immer vor Augen
habe – ein neuheidnisches Memento
mori, das zum Weiterleben nach der Trennung
verpflichten will.
Die
zweite große und zuerst wiederum halb verhüllte Vorbereitung auf
den eigenen Tod erfolgt im Herbst 1826 durch die geplante
Überführung der Gebeine Schillers auf den neuen Friedhof vor dem
Frauentor. Wochenlang
verwahrt Goethe Schillers Schädel
auf blausamtenem Kissen unter einem Glasschrein bei sich, zeigt ihn
Freunden vor und dichtet die Terzinen, in denen
die Entwendung aus dem christlichen Beinhaus durch die
morphologische Entdeckung eines
Geist und Materie aussöhnenden Lebensgesetzes
gerechtfertigt wird. In diesem Enthusiasmus plant
Goethe nun ein halbes Jahr lang die Errichtung eines
Doppelgrabmals mit Schiller. Waren seine
Andeutungen des nahenden Todes bis
dahin vage oder taktischer Natur, so fällt seit etwa
August 1826 seine
Vorliebe für die Metapher von der einbrechenden
Nacht auf (auch
als Briefgruß: »Wirket so lange es Tag ist!«) und
wird uns jetzt zum ersten Mal, im Zusammenhang mit der
Betrachtung von Schillers Schädel, von W. v.
Humboldt überliefert, daß Goethe gelassen
von seinem Tode rede. Eine entsprechende
Äußerung C. v. Holteis vom Mai 1827 stößt in Goethes
Bekanntenkreis noch auf Unglauben. Erst
Ende 1830, nach Augusts Tod, wird die Todeserwartung
zum festen Thema Goethes. So bezeugt es sein Arzt
C. Vogel, und so finden wir es nun
in allerlei Bildern Goethes wie dem von der
»linea ultima«, der retardierenden
Lebensuhr
oder in der saloppen Wendung, seinen »Kaffee
getrunken« zu haben. Bis zur »unbestimmten
Stunde«, hieß es im Brief an Marianne v. Willemer, und
hierüber täuscht sich allerdings auch Goethe
noch, wenn er sich im Februar 1831 auf den Halleyschen
Kometen von 1834 einzustellen scheint, im
Juni 1831 darüber scherzt, daß die kleine Alma »in einigen
Jahren« dem Bruder Wölfchen den Rang beim Großvater
ablaufen könnte und er noch in den letzten Lebensstunden
die Hoffnung auf Wiedergenesung ausspricht.
- 16 -
Weiter