LITERARISCHER VAMPIRISMUS. KLINGEMANNS ›NACHTWACHEN. VON BONAVENTURA‹
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Bildquelle: ›250 Jahre Braunschweigisches Staatstheater 1690-1940‹ (Braunschweig 1941)
wegen
verbannen und selbst die Oper nicht recht als geistiges
Vergnügen gelten lassen. »Kunst-Keuschheit« im höheren Sinn steht
hinter seiner Ablehnung des Jeu mixte, der augenzwinkernden
Verständigung des Spielers mit dem Publikum; noch eine gewisse
Überfülle an Empfindung, die auf die Individualität des
Schauspielers zurückdeute, ist ihm
bedenklich. Daß sich das Theater solchen Zerstreuungen wie auch
allen moralischen Zwecksetzungen
zu entziehen habe, hatte er schon in den Jahren vor den ›Nachtwachen‹
erklärt. Bühnenerfahren, setzt er später
bei der institutionellen Form des Theaters selbst an, indem
er sich gleichermaßen gegen das Hoftheater mit
seinen repräsentativen Funktionen und Geschmacksdiktaten
wie gegen das »städtisch-mercantilische
Actien«-Theater ausspricht. Anstelle beider
Theaterformen, mit denen er als Direktor
lange zu tun hatte, fordert er ein öffentliches,
dabei vom Staat selber unabhängiges Theater, das so
allein einen Ausgleich zwischen Kassenstücken und
experimentellen oder anspruchsvollen
Aufführungen riskieren könnte. Über ein entsprechendes
Repertoire hatte er sich ebenfalls früh schon (1802)
taktische Gedanken gemacht; 1824 geht er so weit, als flankierende
Maßnahme zu der richtigen Mischung der Stücke auch eine
öffentliche Kritik des Parterre
vorzuschlagen (das »schweigend dasitzende Parterre« war
schon Kreuzgang-Hamlet ein Ärgernis), - diesem
Stimmführer des Publikums habe man
geduldig, in Verfeinerung gleichsam des
bekannten Vorklatschens Goethes, kunstverständigen Beifall
beizubringen und ihm auch etwa die Augen für
dienende Rollen zu öffnen.75
Rigoros
wie bei den äußeren Bedingungen zeigt sich Klingemann in den
Ansprüchen an die Schauspieler. Gewisse Erdenreste auf der
Bühne hält er zwar für untilgbar und notiert beispielsweise,
daß bei uns Hiebe der Schauspieler wohl immer
drastisch-deutsch ausfallen müßten. Verfolgt aber
unerbittlich das Durchschlagen einer
anderen und gefährlicheren nationalen Eigenheit, die
Hingabefähigkeit zugunsten einer
»Universalität«, die sich auf der Bühne als Olla potrida
entgegengesetztester theatralischer
Stilformen darstelle: »Hier conversirt einer in der
Toga ... Don Carlos als preußischer Fähnrich
ausgreifend; Posa als gothischer Raufbold,
Tell als antiker Heros usw.«76
Dies wäre die Klingemann seit je verhaßte,
eklektizistische Form von Universalität
(persifliert im »Teufels Taschenbuch«),
das Pisonen-Ungeheuer der 13. Nachtwache, wogegen er
nun, in mimetischer Treue zu Charakter,
Geist und Fremdheit der Stücke, den Schauspielern
systematische Erkundungen
abverlangte: Vor Aufführungen von Schauspielen
der Alten hatten sich die Spieler
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75
Klingemann, Kritik
des Parterre.
In: Beiträge
zur Deutschen Schaubühne
1824, a.a.O. (Fußnote 74 auf S. 54).
76
Klingemann, Über
den verschiedenen Styl in den theatralischen Darstellungen.
In: Beiträge
zur Deutschen Schaubühne 1824,
a.a.O.
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