VON DER SOZIALSATIRE ZUR (PHILOSOPHISCHEN) SELBSTKRITIK
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Hypothese,
Kreuzungsprodukt zwischen dem Teufel und einer Heiligen
zu sein, zeigt ihn just in der Mitte zwischen den
»Wunderkind«-Jahren und der Desillusionierung
am Grabe des Schwarzkünstlers. Jetzt
eigentlich erst kommt der Erzähler zu den schweren
Selbstverfremdungen der Hauptfigur.
Sie kündigen sich in der Leichenrede zum
Geburtstag des Stiefbruders an, wo Freude und Schmerz
vom Individuum abgetrennt gedacht,
zu Leichenwürmern des Lebens selbst erklärt
werden, bis endlich die Leichenträger die
Freuden des einzelnen »und ihn selbst«
hinwegführen könnten. Das »und« zeigt
blitzartig die Selbstzerstörung auf
Kreuzgangs weiteren Stationen von
Narrenhaus und Klostergang auf; und bei diesem
Verlust des fraglosen »Selbst« läßt sich dann
nicht mehr mit Begriffen der Transzendentalphilosophie
so spaßen und kokettieren wie etwa in der
6. Nachtwache, wo Raum und Zeit als Gegenkategorien
zur Unsterblichkeit aufgeboten werden.
Hier schon mißlingt die Selbstverteidigung mit der
spielerisch-kopfverdrehenden
Argumentation, den Richtern mehr
praktische Kompetenz abzuverlangen und zugleich doch die
eigene Tat als poetisch-moralische
gleich doppelt jeder Rechtssprechung zu entziehen.
Das Richterspielen soll sich denkbar verkehren.
Wohlgemerkt,
immer ist hier von der Konsequenz in der Niederschrift der
Nachtwachen die Rede und nicht schon in der dem Leser vorliegenden
Biographie Kreuzgangs. Mit der Rekonstruktion des Schreibprozesses
haben wir allerdings die Chance zu verfolgen, wie Klingemann
schritt- oder sprungweise zu einer Selbstkritik
vorstößt, die in der Frage nach Wesen und Bestimmung des
Menschen den metaphysischen Skandal nicht
scheut. Die
bis hierhin vorherrschenden Sozialsatiren sind
Durchgangsstationen
schon
deshalb, weil die Angriffslust des Satirikers ja immer
noch ein gut Stück Glauben an die Reaktionsfähigkeit
seiner Opfer voraussetzt. Gegenüber den
Anfangsnachtwachen hat sich allerdings einiges
verschoben. Am besten läßt es sich im Vergleich mit
der Konstruktion der »Freimüthigkeiten«
erfassen,
wo Hanswurst im Parterre um seine theatralische
Wiedererstehung kämpft, während auf der Bühne selber
der Dichtergott Apoll, zusammen mit Amor von
Merkel eingefangen, für ein im Kotzebueschen
Geschmack zu verfertigendes Lustspiel
Dienst tun soll und dafür gehörig zurechtgestutzt
werden muß. Harlekin, der mit Prisen seines
desillusionierenden Nieswurzes
wider Willen lachen macht und für das Lächerliche die Augen öffnet,
hat es nur mit durchschnittlichen Vertretern
des zeitgenössischen Publikums zu tun,
zieht sich dabei recht gut aus der Affäre, greift aber
nicht in die Hauptszene ein. Das hat sich geändert;
Kreuzgang
ist der Hanswurst-Rolle der Anfangsnachtwachen
gewissermaßen
entschlüpft und auf die Bühne gesprungen.
Dabei
setzt er sich
genau
den Verfolgungspraktiken aus, die
von Merkel an Apoll ausgeübt wurden; nicht nur werden ihm die
poetischen Attribute abgesprochen
(6. Nachtwache), sondern auch Merkels Androhung in den
»Freimüthigkeiten«,
man
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