LITERARISCHER VAMPIRISMUS. KLINGEMANNS ›NACHTWACHEN. VON BONAVENTURA‹
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Bildung
wohl, aber nur ja keine vom Fach, und kommt Klingemann einmal auf die
»Kritik der Urtheilskraft« des »großen
Verstorbenen« zu sprechen, dann mit einer kleinen
Entschuldigung - »beiläufig gesagt, da Kant den
Frauen auch vom Hörensagen bekannt ist...« (Nr. 68,
1804). Der andere Grund liegt tiefer und wird auch für
die weitere Sprachuntersuchung wichtiger.
Klingemann hat eine recht eigenwillige
Vorstellung davon, wie sich die Essenz eines Buches in der
kritischen Darstellung am besten erfassen
lasse. Anläßlich seiner Besprechung von Friedrich Kinds
»Natalie«
in Nr. 83 (12.7.1804) bringt er den innersten kritischen
Zusammenhang zwischen Werk und Leserurteil auf den Begriff des
»Totaleindrucks«, der »in dem Gemüthe
des Lesers« zurückbleiben müsse: »Verwechseln Sie den
Begriff dieses Wortes nicht mit dem der klaren
Übersicht der Begebenheit; der Totaleindruck,
von dem ich hier rede, besteht vielmehr in einer reinen, im
Gemüthe erweckten poetischen Stimmung;
er überdauert die bestimmte Erinnerung an den
äußern Zusammenhang der Begebenheit durchaus,
und ist allein der sichere Prüfstein eines wahrhaften
Dichterwerkes.«
Ebendiesen
Eindruck hat man bei den Kritiken Klingemanns, daß er sich an die
frei nachspielende Erinnerung hält und statt der
Analyse, die nachsetzend erst voll ins Detail dringt, eine
dichterische Aufarbeitung der Lektüre
versucht. Von welcher Art der Kritik er sich dabei absetzt, wird
am deutlichsten in der »Titan«-Besprechung
vom 7.7.1803:
»Nichts
ist mir ärgerlicher gewesen, als wenn die Kunstrichter bei
ausgezeichnet originellen Schrift-
stellern
alles recht nach der Regel und nach dem Maaße verlangen,
das sie ihrer mehr oder minder be-
schränkten
Bildung gemäß, an die Kunstwerke zu legen belieben,
und einstimmig Feuer rufen, wenn
eine
mächtige Kraft auch ein Mal die Schranken sprengt und sich
im Freien, gleichsam außer dem
Kunstreviere
umhertreibt. Freilich kann in einem so regelrechten
Zeitalter, wozu sich das unsrige aus-
zubilden
bemüht, die Kraft selbst eben nicht das Hauptsächlichste
seyn, worauf man hinsieht; sie re-
den
deshalb auch immer von der Schönheit, als der ruhigen
Erscheinung des Unendlichen, und wenn
der
Strom, der den Himmel und die Erde in sich abspiegelt,
sich einmal kühn in seinem Flußbette auf-
regt
und die Bilder grotesk und eckigt durch einander
zieht, so klagen sie über die aufgehobne Schön-
heit,
ohne die Macht des Stroms selbst zu bewundern. - Dies
alles sind Gleichnisse...«.
Und in
Gleichnissen vor allem bewegt sich Klingemann in seinem
Bemühen, dem Totaleindruck auf den
verschiedensten Niveaus gerecht zu werden, sei es
gegenüber einzelnen Gestalten und
Situationen, sei es zur Charakterisierung
von Erzählhaltungen und -prämissen, etwa um für
Kosegartens »Inselfahrt« »die
Stimmung in Ihnen hervorzurufen, in welcher Sie allein fähig
sind, das Ganze gehörig zu würdigen« (Nr. 91,
1804).
Seine
grundsätzliche, immerzu sich schärfende Suche nach dem poetischen
Bild kann so ohne weiteres in Berührung bleiben mit
der Arbeit an einem Werk wie »Nachtwachen
von Bonaventura«.
Und im Unterschied zu den vorangegan-
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