MERLIN ODER DER ALTE GOETHE
DIE LETZTEN JAHRE (1823-32)
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In
diesen Todesbildern wird das Individuelle nicht mehr zur
Traditionsbildung aufgezehrt, sondern hat sich gegen die
nivellierende Zeit in eigener Gestalt durchgehalten und
greift gar wie das Alexandermosaik
die
bis dahin als folgerichtig vorgestellte Überlieferung an.
Freilich sind es wiederum nur Bilder oder allenfalls versprengte
Beispiele, die außerdem nichts von dem Arbeitsethos dessen
erkennen lassen, der wie Goethe vom »Folgereichen« jeder
konsequenten Tätigkeit überzeugt ist, mag es oft auch nur
verzögert, verdeckt oder verfälscht zum Vorschein kommen. Für den
es deshalb nur
im Durchdringen der Gegenwart, im Erfassen und Steigern ihrer eigenen
Möglichkeiten eine Überwindung der Zeitgebundenheit
gibt. Was denn praktisch etwa bedeutet, daß er gegen das
»Loswerdenwollen« der Gegenwart auf der Rechenschaft und
Klärung durch das Tagebuch besteht, bis zuletzt die ›Oberaufsicht‹
über die der Wissenschaft und Kunst gewidmeten Weimarer und Jenaer
Anstalten ausübt, kritisch die Strömungen und Talente der
Gegenwartsliteratur wie auch die zeitpolitischen Konflikte verfolgt
(die Julirevolution 1830 betrachtet er so als die »größte
Denkübung« zum Abschluß seines Lebens und erörtert
Ursachen, Verlauf und diplomatische Aktivitäten mit dem weimarischen
Staatsminister v. Gersdorff). Bei aller Skepsis also kein Rückzug
aus der Gegenwart, vielmehr Prüfen des Neuen und Festhalten an dem
für richtig Erkannten - wozu allerdings auch das Abschütteln
falscher, ›veloziferischer‹ oder bloß egoistischer
Gegenwartsinteressen gehört.
Wenn Goethe den
Rückzug
aus dem Lebensegoismus im
hohen Alter forciert, dann erklärtermaßen zur »Kohobierung«
oder Läuterung seiner Eigentümlichkeiten und
zur »Prägnanz« seines Schaffens. Daß die Maxime der
Selbstüberwindung nicht auf Weltflucht und Selbstgenügsamkeit
hinauswill, geht auch daraus hervor, daß er in den letzten Jahren
vehement
wie nie die Spielarten falscher Individuierung attackiert,
den Eigensinn, der unbelehrt immerfort von vorne anfangen möchte,
den dilettantischen Stolz, sich alles selbst zu verdanken sowie
die weltverleugnenden Tendenzen von Introspektion und
Selbsterkenntnis. Den »starr-zähen Egoismus« der Jugend beklagt er
ebenso wie die
Isoliertheit der deutschen Gelehrten und die »Selbstigkeitslust«
überhaupt der Deutschen,
die im Unterschied zu den in literarischer Geselligkeit wirkenden
Franzosen –
deren
zeitgenössischen Dichtern und Kritikern er
höchste Beachtung schenkt –
ihre Individualität
still und eifrig von Innen heraus zu bilden suchten und später,
nach ihrem Durchbruch, erneut isoliert dastünden, da sie nichts
ihnen Entsprechendes finden könnten. So wehrt er
auch die dünkelhaft ein geistiges Eigentum reklamierenden
Plagiatsvorwürfe ab und pocht insbesondere auf das
Recht des Dichters, sich alles je Gesagte und Gedachte anzueignen.
Ja, allen selbstvergötzenden Ansichten von Originalität setzt er
seine Auffassung entgegen, daß
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