MERLIN ODER DER ALTE GOETHE
DIE LETZTEN JAHRE (1823-32)
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wüßte
Goethe sie wie bislang unproblematisch der eigenen zusammenhängenden
Lebensgeschichte einzugliedern. Dieser
innere Zusammenhang der einzelnen Lebensabschnitte scheint
ihm aber verlorenzugehen.
Befremdet und verstört spricht er von dem »Wunderlichen« oder
»Wunderbaren« seiner früheren Lebenszustände, die er in einem
kaum noch zu überbrückenden Erfahrungsabstand zu
sich selbst wahrzunehmen beginnt. »Den nächsten 5. November tret
ich in's fünfzigste Jahr meines Hierseins; vor der Reihe einer
dorther sich spinnenden Erinnerung möchte einen fast grauen, wäre
man nicht nach einem so weiten überschifften Zeitraum doch noch bei
sich selbst«, schreibt er Anfang Oktober 1824 seinem alten
Sturm-und-Drang-Gefährten Klinger. Sogar diese tröstliche
Gewißheit, bei sich selbst geblieben zu sein, schwindet dahin, nicht
zuletzt dadurch, daß nun offenbar auch das Gedächtnis öfter
versagt. Als er den Eindruck wiedergibt, den die Lektüre seines
Briefwechsels mit Schiller auf ihn mache, heißt es noch unbestimmt:
»Mir ist es dabei wunderlich zu Mute, denn ich erfahre was ich
einmal war« (30.10.1824 an Zelter). Am 3.7.1830 schreibt er an
Boisserée über
seine alten Rezensionen in den 'Frankfurter
gelehrten Anzeigen'
und in der 'Jenaischen
Allgemeinen Literatur-Zeitung':
»ich
komme mir selbst darin oft wunderbar vor, denn ich erinnere
mich ja nicht mehr daß ich diesem oder jenem Werke, dieser oder
jener Person zu seiner Zeit eine solche Aufmerksamkeit geschenkt; ich
erfahr es nunmehr als eine entschiedene Neuigkeit«.
Goethe
hat eine eigene Bezeichnung für das Sichfremdwerden gefunden:
›Sich-selbst-historisch-Werden‹. Diese
Formel, die er auch leicht abgewandelt gebraucht, wird von ihm nur
beiläufig, nur im Zusammenhang mit seinen übrigen
Lebensverhältnissen kommentiert. »So gesteh' ich gern«, erklärt
er im Brief vom 1.12.1831 W. v. Humboldt, »daß in meinen hohen
Jahren, mir alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der
vergangenen Zeit, in fernen Reichen, oder mir ganz nah räumlich im
Augenblicke vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst immer
mehr und mehr geschichtlich«. In den späten Maximen und Reflexionen
'Aus
Makariens Archiv (Wanderjahre)'
hat er wieder einmal von der
eigenen Befindlichkeit abstrahiert, dabei aber eine existentielle
Konsequenz deutlicher ausgesprochen: »Sogar
ist es selten, daß jemand im höchsten Alter sich selbst
historisch wird, und daß ihm die Mitlebenden historisch
werden, so daß er mit niemanden mehr kontrovertieren mag noch kann.«
Diese unpolemische Haltung
und ihre tieferen Gründe kennen wir schon; und auch im jetzigen
Kontext, durch die voraufgehende und nachfolgende
'Archiv'-Maxime,
wird zum Stichwort »historisch« die Einsicht vorgebracht, daß ein
jeder nur nach seiner eigenen Weise denken könne und daß
darum alle Bekehrungsversuche fruchtlos bleiben müßten. Im
Analogieschluß, den wir nach allem zuziehen haben, wäre dann
›Sich-selbst-historisch-Werden‹
das seltene Lebensgefühl, daß die eigenen früheren
Lebensabschnitte ihr Eigenrecht behaupten und
einem selbst nicht mehr angehören;
daß man wie gegenüber den Zeitgenossen sich selbst gegenüber
gewisse Prämissen zu respektieren hat, die nicht mehr mit späteren
zu vereinbaren sind und
daß insofern die Verständigung mit sich selbst kaum mehr
sinnvoll erscheinen
mag. Als
Empfindung kann dies schon bei jüngeren Menschen anklingen,