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GOETHES LETZTES JAHRZEHNT. GENIE ALS KOLLEKTIVWESEN. ENTELECHIE

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Abbildung: Ausschnitt der Grafik von Alphonse Lamotte (1889) nach dem Gipsrelief von Jules Dalou (1883). Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Etats_G%C3%A9n%C3%A9raux_-_grav%C3%A9s_par_Lamotte.jpg

das Genie als höchste Manifestation des Individuums sich wesentlich durch seine Fähigkeit bestimmt, sich die Kenntnisse und Leistungen der anderen energisch anzueignen. Auch diesen Gedanken hat Goethe am luzidesten wieder kurz vor sei­nem Tode dargelegt, im Gespräch vom 17.2.1832 mit Soret. Nach seinem Plädoyer für Mirabeau, dessen um­strit­te­ne Praxis, die Einfälle und Programme seiner Mitarbeiter für die eigenen Zwecke zu benutzen, für ihn ge­ra­de das Kennzeichen seiner genialen Begabung ist, folgt die grandiose Erklärung:

 

»Was bin denn ich selbst? Was habe ich denn gemacht? Ich sammelte und benutzte alles was mir vor Au­gen, vor Ohren, vor die Sinne kam. Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das ihrige bei­ge­tra­gen, Toren und Weise, geistreiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.

   Solch ein Kollektivwesen war in seiner Art auch Mirabeau; er war der geniale Redner, der geniale Samm­ler, der geniale Beobachter ... seine große Kunst bestand darin, ringsum eine Fülle ausgezeichneter Kräf­te in Bewegung zu setzen.«

 

Das Individuum gewinnt hiernach in seiner höchsten Entfaltung überindividuellen Rang, vermag die Le­bens­er­fah­rungen ungezählter Individuen in sich aufzunehmen und dabei zur Reife zu bringen freilich assimiliert, in eine neue Einheit überführt, erhalte und steigere doch das Genie in diesen Aneignungsprozessen seinen Charakter oder die sei­nem Daimon entsprechende »Grundbestimmung« (wie er noch am 17.3.1832 W. v. Humboldt darlegt). Wir streifen hier unversehens Goethes alten Glauben an die »Entelechie«, die individuelle seelische Kraft, die, unsterblich, zu ih­rer Vervollkommnung immer neue Verbindungen eingehen müsse, dabei schwächere »entelechische Monaden« in ihren Bann ziehe, ihrerseits aber auch einer mächtigeren Hauptmonade untergeordnet werden könne. Die Möglichkeit einer bloß energetischen Unsterblichkeit einmal unterstellt, scheint es jedoch für Goethe selbst frag­lich geblieben zu sein, inwiefern bei all den Metamorphosen der Monaden, ihren Rangkämpfen und Ab­hän­gig­kei­ten vom eigenen Körper, von anderen Lebewesen oder gar Gestirnen noch sinnvoll von Individualität zu spre­chen wäre (vgl. dazu meine Anmerkung zu Riemers Tagebucheintrag vom 25.11.1824).

 

In seinem Glauben an die über die Zeiten hin wirksame hohe Individualität sieht sich Goethe im Alter vor allem durch die »Tüchtigen« bestärkt, die ihrer Zeit oft zum Opfer fallen müßten. Er bezeichnet diese Minderheit, die man ebenfalls mit dem »kollektiven« Zug des Genies begabt denken muß, im Brief vom 18.6.1831 an Zelter auch als


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Darstellung der Szene, wie der Marquis de Mirabeau am 23. Juni 1789 den königlichen Zeremonienmeister abfertigte, der die Versammlung der Generalstände auzuflösen anordnete.
   Heinrich v. Kleist beschrieb um 1805 diese ›Donnerkeil‹-Rede Mirabeaus als exemplarisch für die ›allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹.

 

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