das Genie als höchste Manifestation des Individuums sich wesentlich durch seine Fähigkeit bestimmt, sich die Kenntnisse und Leistungen der anderen energisch anzueignen. Auch diesen Gedanken hat Goethe am luzidesten wieder kurz vor seinem Tode dargelegt, im Gespräch vom 17.2.1832 mit Soret. Nach seinem Plädoyer für Mirabeau, dessen umstrittene Praxis, die Einfälle und Programme seiner Mitarbeiter für die eigenen Zwecke zu benutzen, für ihn gerade das Kennzeichen seiner genialen Begabung ist, folgt die grandiose Erklärung:
»Was bin denn ich selbst? Was habe ich denn gemacht? Ich sammelte und benutzte alles was mir vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne kam. Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das ihrige beigetragen, Toren und Weise, geistreiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.
Solch ein Kollektivwesen war in seiner Art auch Mirabeau; er war der geniale Redner, der geniale Sammler, der geniale Beobachter ... seine große Kunst bestand darin, ringsum eine Fülle ausgezeichneter Kräfte in Bewegung zu setzen.«
Das Individuum gewinnt hiernach in seiner höchsten Entfaltung überindividuellen Rang, vermag die Lebenserfahrungen ungezählter Individuen in sich aufzunehmen und dabei zur Reife zu bringen – freilich assimiliert, in eine neue Einheit überführt, erhalte und steigere doch das Genie in diesen Aneignungsprozessen seinen Charakter oder die seinem Daimon entsprechende »Grundbestimmung« (wie er noch am 17.3.1832 W. v. Humboldt darlegt). Wir streifen hier unversehens Goethes alten Glauben an die »Entelechie«, die individuelle seelische Kraft, die, unsterblich, zu ihrer Vervollkommnung immer neue Verbindungen eingehen müsse, dabei schwächere »entelechische Monaden« in ihren Bann ziehe, ihrerseits aber auch einer mächtigeren Hauptmonade untergeordnet werden könne. Die Möglichkeit einer bloß energetischen Unsterblichkeit einmal unterstellt, scheint es jedoch für Goethe selbst fraglich geblieben zu sein, inwiefern bei all den Metamorphosen der Monaden, ihren Rangkämpfen und Abhängigkeiten – vom eigenen Körper, von anderen Lebewesen oder gar Gestirnen – noch sinnvoll von Individualität zu sprechen wäre (vgl. dazu meine Anmerkung zu Riemers Tagebucheintrag vom 25.11.1824).
In seinem Glauben an die über die Zeiten hin wirksame hohe Individualität sieht sich Goethe im Alter vor allem durch die »Tüchtigen« bestärkt, die ihrer Zeit oft zum Opfer fallen müßten. Er bezeichnet diese Minderheit, die man ebenfalls mit dem »kollektiven« Zug des Genies begabt denken muß, im Brief vom 18.6.1831 an Zelter auch als
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