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MERLIN ODER DER ALTE GOETHE
DIE LETZTEN JAHRE 
(1823-32)

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In Goethes Tagebuch finden sich nur selten Notizen zum Inhalt seiner Gespräche, meist kaum mehr als Name, Titel und viel­leicht noch Zweck des Besuchs. Wie kümmerlich sind seine Hinweise auf die Gespräche mit Lili Parthey und Luise v. Löw! Ausführlicher wird er eher bei fachlich faszinierenden Besuchern wie dem Salinendirektor Glenck, dem Botaniker Martius, dem Rezitator Wolff und dem Präparator Seelus. Auch die Wiedersehensfreude mit dem Oberförster Sckell, dessen Wer­de­gang seit 1792 er skizzenhaft wiedergibt, oder Enttäuschung und Empörung über die Entwicklung Weimarer Künstler und den beklagenswerten Geisteszustand des in der Nähe wohnenden Dichters Ortlepp finden im Tagebuch stärkere Resonanz, wobei in Ortlepps Fall dessen souveräner Gesprächsbericht vom 29.7.1828 als bloße Pose dekouvriert wird.

   Solche Äußerungen des Zorns und Unmuts erscheinen im Tagebuch des letzten Jahrzehnts sicherlich häufiger als zuvor, er­schüt­ternde Ereignisse aber werden hier gewaltsam unterdrückt und beinahe gänzlich erstickt. Der Lakonismus beim Tode Co­rne­li­as im Tagebuch vom 16.6.1777 (»Brief des Tods m. Schwester. Dunkler zerrissner Tag«) und bei Christianes Tod am 6.6.1816 (»Leere und Totenstille in und außer mir«) war noch beredt verglichen mit den in der Außenperspektive vorgebrachten und dabei streng in die chronologische Wiedergabe des Tagesablaufs eingebundenen Todesnachrichten vom 15. 6. 1828 (»< ...> die Tiroler sangen bei Tische. Die Nachricht von dem Tode des Großherzogs störte das Fest«) und vom 10.11.1830 (»Gegen Abend Herr Geh. Rat von Müller und Hofrat Vogel, mir mit möglichster Schonung das in der Nacht vom 26. bis 27. Oktober er­folg­te Ableben meines Sohns in Rom zur Kenntnis zu bringen; worauf denn Nachstehendes teils mitgeteilt, teils überlegt wur­de«). Und so wird auch die Entlassung des langjährigen Dieners Stadelmann am 1.7.1824 nur wie in einer drittklassigen Re­gie­bemerkung erwähnt (»Stadelmanns Abgang.«) und das Wiederlesen der Verse auf dem Kickelhahn, von dem uns Mahr ei­nen bewegenden Bericht gibt, im Tagebuch vom 27.8.1831 nach Kräften banalisiert (»Die alte Inschrift ward rekognosziert: Über allen Gipfeln ist Ruh pp.«). Das sind nicht bloß Formen der Diskretion, sondern auch letzte stoische Exerzitien.

 

Bei all der Zurücknahme trocknen diese Tagebücher nicht etwa aus, sie erleben vielmehr noch in diesem letzten Jahrzehnt ei­nen überraschenden Gestaltenwandel. Herrschen in den ersten Jahren die kaum zu Hauptsätzen ausformulierten Notate, die das Abgetane oder zu Erledigende kommentarlos festhalten, beinahe unangefochten vor, so stößt man um 1827 öfter auf Re­fle­xionen wie Nr. 373 zur Reformation oder Nr. 492 zur Verliebtheit des Übersetzers. Ein deutlicher Anstieg ist für 1829/30 fest­zu­stel­len, und frappant die Steigerung im letzten Lebensjahr, seit Anfang 1831, wo man Betrachtungen zur bildenden Kunst wie Nr. 781 über den »frömmelnden Kunstwahnsinn« in Deutschland und Nr. 899 über eine Verbindung zwischen dem Alexandermosaik und Raffaels 'Konstantinsschlacht' findet, literarische Reflexionen wie Nr. 784 über böhmische Dichtung und Sprache, Nr. 856


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