GOETHES LETZTES JAHRZEHNT. AUSGABE LETZTER HAND
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Bei
den Altersbeschwerden
kommt
Goethe glimpflich davon. Am betrüblichsten ist fast noch die
zunehmende Immobilität, der –
zunächst
seelisch bedingte –
Verzicht
auf die großen Badereisen nach 1823 sowie die Einstellung der
gewohnten längeren Aufenthalte in Jena, wo ihm seine
»Studenteneinrichtung« schon ab 1820 zu unbequem wurde. Ansonsten
erfahren wir von einer gewissen Schwerhörigkeit, dem Verlust (und
Ersatz) der Zähne, die ihn so oft gepeinigt hatten, dem schurrenden
Gang über den Teppich, seiner gezwungenen aufrechten Haltung, vom
frühen Ermüden und von kleineren Beeinträchtigungen, indem er
manchmal Sachen verlegt, sich in Briefen wiederholt, nicht
mehr so leicht Entschlüsse fassen kann und auch,
wie Vogel zu erkennen glaubte, von
der »so großen Beweglichkeit der Gedanken« einbüßt.
Man versteht jedenfalls, daß Goethe 1826 eine Erkundigung
Therese Hubers nach seiner Kenntnis der klassischen Abhandlungen über
das Altern recht kühl beantwortet, seine Lektüre geradezu
verleugnet und lieber auf neue erfreuliche Alterserfahrungen
hindeutet. Davon ist auch in einigen Briefen an Zelter die Rede; so
defensiv sein Wort vom 16.12.1829 klingt, »daß im hohen Alter die
verständige Vernunft, oder, wenn man will, der
vernünftige Verstand sich als Stellvertreter der Sinne legitimieren
darf«,
so ungeheuerlich in seiner Geisteszentrierung das Bekenntnis vom
29.4.1830: »Und dann darf ich dir wohl in's Ohr sagen: ich
erfahre das Glück, daß mir in meinem hohen Alter Gedanken aufgehen,
welche zu verfolgen und in Ausübung zu bringen eine Wiederholung des
Lebens gar wohl wert wäre«. Wir werden sehen.
Wie
Goethe seine Immobilität durch die vielen in- und ausländischen
Besucher mehr als nur kompensiert, so widersteht er der Todesdrohung
geistig durch eine eigene Altersstrategie, die sich in einer
Polarität von Sammlung und Auflösung, konzentrierender
Beschränkung und Überschreitung vollzieht: Konzentration
auf die eigenen Arbeiten und Projekte, die noch unausgeführt und
ungesichert daliegen,
insbesondere durch den Aufbau einer 'Vollständigen
Ausgabe letzter Hand',
die Wiederaufnahme steckengebliebener Werke, Sicherung
des literarischen Nachlasses und, wie erwähnt, die Herausgabe seiner
vitalsten Briefwechsel. Überschreitung
und Entgrenzung im neuen Thema der ›Weltliteratur‹, in der
zunehmenden Distanzierung von der (›veloziferischen‹) Gegenwart
zugunsten einer höheren geistigen Solidarität,
auch als Versenkung in die kollektive Vorzeit wie in die eigene
Lebensgeschichte, um noch hier, im Innersten und
Kostbarsten der Individualität, Reste falscher Selbstsicherheit
aufzulösen.
Als
er im Mai 1822 ein Schema »zu einer vollständigen Ausgabe zu
Goethes Nachlaß« ins Tagebuch einträgt und Tage später
seinen Schreiber Kräuter mit der Sichtung und Ordnung seiner
gedruckten und ungedruckten Arbeiten beauftragt, scheint Goethe
zunächst nur an archivalische Vorarbeiten zu denken, die nach
Lessings Beispiel für eine postume Ausgabe zu nutzen wären. Schlägt
er noch Mitte 1823 in Briefen an Cotta nur eine Aufstockung der
20bändigen Gesamtausgabe seiner Werke ›B‹ durch schon im Druck
vorliegende zerstreute Werke auf 30 Bände vor (just die Bandzahl
jener 'Vermischten
Schriften'
Lessings!), so
sucht er ihn seit Mai 1824 für eine größere und von Grund auf neu
einzuteilende Ausgabe zu gewinnen.
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