MERLIN ODER DER ALTE GOETHE
DIE LETZTEN JAHRE (1823-32)
_________________________________________________________________________________________
Bildquelle: https://archive.org/stream/schriften29goetuoft#page/24
Siehe auch: 'Schriften der Goethe-Gesellschaft' Band 29 (Weimar 1914), Abbildung 6
»die
Gemeinschaft der Heiligen, zu der wir uns bekennen«, denen man ein
gutes Wort auf dem Papiere hinterlassen müsse, so wie auch
ihn soeben eine alte Rheinlandschaft des Holländers H. Sachtleven
aufgerichtet habe. Er hat diese genialen »Tüchtigen« unter
wechselnden Namen angerufen, als
verborgen wirksame »Minorität für das Wahre«
in der Wissenschaft ('Wanderjahre'
III 14), als
stille »kleinste Schar«
('Vermächtnis')
und mehrfach als
verfolgte »unterdrückte Kirche«.
Schon in seinem epischen Fragment 'Die
Geheimnisse'
(1784/85) tritt uns eine solch isolierte Bruderschaft in
»einer Art von ideellem Montserrat«
entgegen, stellvertretend für die höchsten Denkweisen und
(religiösen) Überzeugungen des Menschen. Und nicht nur die
Gemeinschaft der Tüchtigen, sondern auch das Tüchtige
selbst wird so im »Zwischengesang« des an Carl August gerichteten
Gedichts 'Zur
Logenfeier des dritten Septembers 1825'
in seiner sich verewigenden, »unser zweites Vaterland«
verbürgenden Kraft gepriesen. Dieses Ideal leuchtet
noch in Goethes letztem symbolischem Altersbekenntnis
zu einer antiken synkretistischen Sekte
auf, die das Höchste oder Erhabenste (›Hypsistos‹) verehrte: Er
habe bisher, teilt Goethe am 22.3.1831 Boisserée mit, »keine
Konfession gefunden, zu der ich mich völlig hätte bekennen mögen.
Nun erfahr ich aber in meinen alten Tagen von einer Sekte
der Hypsistarier,
welche, zwischen Heiden, Juden und Christen geklemmt, sich
erklärten, das Beste, Vollkommenste, was zu ihrer Kenntnis käme, zu
schätzen, zu bewundern, zu verehren und, insofern es also mit
der Gottheit im nahen Verhältnis stehen müsse, anzubeten.
Da ward mir auf einmal aus einem dunklen Zeitalter her ein frohes
Licht, denn ich fühlte, daß ich Zeitlebens getrachtet hatte, mich
zum Hypsistarier zu qualifizieren«.
Die
mit der christlichen Heilsbotschaft spielende religiöse Diktion gab
dem Katholiken Boisserée keine Ruhe, vergeblich, Goethe ließ sich
auf seine trinitarischen Auslegungsversuche des ›Hypsistos‹ nicht
ein. Seine
Religiosität bleibt bis zuletzt dezidiert
nichtchristlich und
hält entgegen allen endzeitlichen Erwartungen an der Wirkungskraft
des tüchtig erfaßten ›Augenblicks‹ oder ›Moments‹
fest,
an seiner innerzeitlich erbrachten, aber zeitbildenden und gar
Ewigkeit begründenden ›Prägnanz‹ und ›Fruchtbarkeit‹.
Diesem Heilig-Tüchtigen zugedacht bleiben denn auch
seine religiösen Metaphern für die eigene gedämpfte
Merlin-Existenz: sein »inneres Klostergarten-Leben«,
das er besonders in den Briefen an Zelter und im Kontrast zum bunten
und lärmenden Berliner Treiben beschwört, wenn er sein
Arbeitszimmer als »Klosterzelle« vorstellt, als »Zelle« oder
»Klause« mit Blick auf den von Mauern umgebenen »Klostergarten«,
über den die Welt- und Tagesereignisse nur als phantasmagorische
Wolken hinwegzögen oder auf dessen schneebedeckten Flächen sich in
der Einbildungskraft abzeichneten (28.1.1828 an Reinhard und
28.12.1830 an Zelter).
- 32 -
Zurück