RÜCK- UND AUSBLICK
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
sie
wieder frei. Die
nie gehaltene Oratio,
die er als Eröffnungsrede des Kongresses verfasste, erschien erst
1496 im Druck, zwei Jahre nach Picos womöglich gewaltsamem Tod.6
Die
Conclusiones
dieses auch des Hebräischen und
Arabischen Kundigen sollten dazu anstoßen, die vielen
konkurrierenden Denktraditionen wie die jüdisch-christliche Kabbala
und die islamische Philosophie eines Avicenna, Averroës oder Moses
Maimonides auf ihre geistige Konvergenz hin zu untersuchen. Ein
Rechtfertigungsversuch, der auf
dem Hintergrund des neuen Menschenbildes nicht
als Eklektizismus abzutun ist, vielmehr den einen menschlichen
Geist, sofern er sich nur frei zu artikulieren wusste, auch in seinen
entlegensten Denkbemühungen ernst zu nehmen suchte.
*
Die weiteren
Etappen der anthropologisch entwickelten „Weltoffenheit”, die
über Montaigne und Herder zu Scheler und Plessner führten, zeigen
keine
geradlinige Entwicklung.
Der Zugewinn an Einsichten ist eher sprunghaft und wird immer wieder
zugunsten anderer Leitkategorien zurückgedrängt und in manchen
Aspekte überhaupt aufgegeben. Besonders schwer zu
vermitteln war die Einsicht, dass der Mensch nicht göttlicher,
sondern tierischer Herkunft ist. Der
fromme Selbstbetrug einer Gottesebenbildlichkeit des Menschen7
wurde schon relativ früh
durchschaut (von
Montaigne), doch pflegte man die Nähe zur tierischen Natur nur für
Extremfälle seelischer und moralischer Verwilderung einzugestehen.
-----------------------------------------
6
Zu dem Verdacht, dass
sein Sekretär Cristoforo di Casale ihn vergiftet haben könnte, vgl.
Stephen Alan Farmer, Syncretism
in the West: Pico’s 900 theses (1486). The
evolution of traditional religious and philosophical systems
(Tempe,
Arizona, 1998), S. 177f.
7
Ein vorchristlicher
Gedanke, den Ovid in seinen Metamorphosen
(I 76-86) so ausführt:
„Aber noch fehlte
bisher ein edleres Wesen, mit hohem|Geiste beseelt, damit es die
anderen alle beherrsche.” „Als Abbild der alles beherrschenden
Götter” wurde der Mensch von Prometheus aus Erde geformt: „Während
die andern Geschöpfe gebeugt die Erde betrachten,|Gab er ein
aufrecht Antlitz dem Menschen und hieß ihn zum Himmel|Schauen und zu
den Sternen empor die Blicke lenken”. (Übers. von Thassilo von
Scheffer, Zürich 1998). Plato nahm den Mythos in einer anderen
Variante auf, vgl. S. 19 zu Herder.
- 45 -