IDENTITÄTSFRAGEN. - GEGEN PROUSTS ATOMISMUS
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Versuche,
den damaligen
Kindern und mehr noch den Jugendlichen und Erwachsenen aus meiner
jetzigen Erwachsenenperspektive
näherzukommen, indem ich etwa nach ihren weniger manifesten
Funktionen in ihren damaligen Lebenskreisen fragte, blieben
ihnen durchweg äußerlich. Wie ich schon längst für meine
Großmutter bemerkt hatte, wurde ihre für mich lebenswichtige
Rolle durch mein späteres, mich skeptisch stimmendes
Erwachsenenwissen nicht aufgelöst. Mochte auch der eine oder andere,
der sie näher kannte, nach Jahrzehnten von seinem Standpunkt aus ein
mir noch so einleuchtendes kritisches Urteil über sie abgeben,
so zerstörte dies doch nicht ihre alte emotionale Aura der
Beschützerin und Gönnerin von meinem Bruder und mir.
Ist
also jede
Person – so
Proust – immer eine Vielzahl von Wesen für uns,
da Ausdruck unserer unterschiedlichen Alters- und
Bewusstheitsstufen, auf denen wir ihr begegneten? So
bezaubernd uns Proust als Romancier diese These zu entwickeln
versteht, so heftig sträubt es sich doch in mir gegen einen solchen
Bescheid, der ja gleichbedeutend mit einer Atomisierung unserer
Erfahrungen und unserer selbst wäre, so, als dürften wir gar
nicht erst versuchen, die verschiedenen Facetten der Person, der Zeit
und unseres Lebens zusammenzubringen. Gewiss gibt es keine
anschauliche Synthesis all der oft widersprüchlichen und im Lauf der
Zeit sich voneinander fortentwickelnden Verhaltensweisen und
Fähigkeiten. Sie lassen sich jedoch sukzessive, sprungweise, von
Epoche zu Epoche, in
der Erinnerung festhalten, vergleichen und damit entfalten.
Womit denn doch, selbst wenn man es gar nicht beabsichtigte,
von Zeitpunkt zu Zeitpunkt der nämliche Verhaltenszug oder eine
Variante, eine vermeintliche Inkonsequenz oder auch Neubildung zum
Vorschein kommen. Für die eigene Person lässt sich dies noch
relativ leicht feststellen, für andere vor allem deshalb
nicht, weil wir zu ihnen in der Regel nur über einen gewissen
Zeitraum hin engere Beziehungen aufrechterhalten konnten. Am
ehesten noch wäre es bei nahen Verwandten wie meiner Großmutter
möglich. Hätte ich ihre Persönlichkeit zu beurteilen,
würde ich zwar
meine kindlichen Eindrücke energisch verteidigen, aber eben auch
das
berücksichtigen, was ich seither noch zu hören bekam, etwa dass sie
damals von anderen dies und das für sich selbst abgezwackt und mir
gar den Besuch des Gymnasiums nicht gegönnt
haben soll. Wobei ich nun doch manchmal einen kleinen Stich verspüre,
ja, mir gestehen muss, dass dieses mein Erwachsenenwissen über sie
mittlerweile jene Aura zumindest geschwächt haben
dürfte.
Freilich mag ich dieses von einem mir damals fremden Standpunkt aus
gefällte Urteil längst nicht so bereitwillig akzeptieren wie die
Informationen, die ich unlängst von Wolfgang über unsere Knabenzeit
erhielt und die ich als
Begleitwissen sogleich in mein Erinnerungswissen habe eindringen
lassen.
Bei diesem alten Spielkameraden fiel mir dies schon deshalb leichter,
weil das von ihm Erinnerte von einer mir gleichen, kindlichen
Beobachtungsqualität war. Wie denn auch andere Hinweise Dritter,
sofern sie meinem damaligen Erfahrungshorizont
angehören,
sich meinem lückenhaften Erinnerungswissen spontan zugesellen
können, so die jüngst von mir wiedererkannten
Lehrgebärden meines ersten Lehrers oder die Auskunft meines Onkels,
ich hätte einst an seiner Krücke laufen gelernt.
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