GESTALTEN DES VERGESSENS
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
extremen
Konstellation durchgespielt und unsere persönlichen Beziehungen so
radikal auf die Probe gestellt werden können, dass wir bei
Bewusstsein lieber die Augen davor verschließen, unbewusst jedoch
unserem Status quo schon um etliche Schritte voraus sein dürften.
Umgekehrt
hat ja so manches an unseren bewussten oder vor dem Bewusstsein
ablaufenden Operationen irrationale Qualität, lässt uns bei der
Analyse von Daten und Problemen plötzlich intuitiv weiter vorstoßen
und zu Probeschlüssen hinspringen, unterbreitet uns als analogisches
Denken ebenso verlockende wie mutwillige Angebote, hat in Gestalt
unserer Denk- und Formulierungsgewohnheiten unvermerkt
Zwangscharakter angenommen oder zeigt bei der Strukturierung und
Systematisierung ebenfalls eine tendenziöse kompositorische Gewalt,
die sich der unwillkürlichen Phantasie nähert oder auch nach Art
eines biologischen Systems zu funktionieren scheint.
Wie
viel bei
der Erinnerungsbildung
mit Hilfe des VERGESSENS
zustande gekommen sein muss, lässt
sich über eine Reihe von Indizien erahnen. Sofern es nicht bloß
Ausdruck der Gleichgültigkeit oder einer tieferen geistigen und
lebensgeschichtlichen Schwächung ist, unterliegt auch das Vergessen
weithin jener Gestaltungskraft
des unwillkürlichen Gedächtnisses.
Freilich wird es seinerseits von rivalisierenden
Fähigkeiten und Absichten wie denen beeinflusst, das Erfahrene
verlässlich zu registrieren,
zu objektivieren oder es den eigenen Bedürfnissen und
Vorstellungen anzupassen und konstruktiv zu erweitern.
Zu
den hartnäckigsten Indizien für die Macht des Vergessens gehören
die von Zeit zu Zeit wiederkehrenden, aber nur vorüberhuschenden
Momente
oder Szenerien, die partout nicht deutlicher zur Erinnerung kommen
wollen.
Seit Jahrzehnten erscheint mir so mitunter, für kaum einen
Augenblick, ein Gartenrestaurant mit Lampions, das mal bei einem
Onkel, mal auf den Anhöhen von Nizza zu liegen scheint (womöglich
eine Kontaminationsbildung aus beiden Stätten). Und beinahe nur noch
in der Negativform, als Wissen um ihren bedauerlichen Verlust,
erfahre ich gelegentlich wieder von den Eindrücken, die ich als
12jähriger Pfadfinder von Frankreich und Belgien erhielt (offenbar
wurden sie überlagert durch viele spätere Aufenthalte dort).
Geläufiger sind die unvermuteten Ausfälle, auf die man
durch Dritte oder durch eigene frühere Aufzeichnungen aufmerksam
wird. Während der Gespräche, die ich nach Jahrzehnten wieder
führte, wurde ich öfter von einem mir einst wichtigen Erlebnis oder
Faktum in Kenntnis gesetzt, das mir längst entfallen war. Einiges
war mir sogleich oder doch nach kurzer Irritation wieder deutlich,
etwa meine Adjutantenrolle beim Besuch des Bundesführers unserer
Pfadfinderschaft oder der verschlüsselte Name unseres
Pfadfinder-„Thingbaums” („Pd7A”). Für anderes bekam ich erst
im Laufe der Stunden oder Wochen wieder ein verlässliches Gefühl,
so für meine mit einem Klassenkameraden organisierte mutwillige
Aussperrung eines Begleitstudienrats in Berlin oder für einen
nächtlichen Besuch eines „Non-Stop-Kinos” mit zwei
anderen Mitschülern in Paris.
- 41 -