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Tabuverletzungen
waren uns Kindern demnach möglich. Und dennoch, dieses starke
Grenzgefühl, das die linke Flanke außer Betracht lässt und
von einer Randposition (dem Grenzbaum) her alles weit nach rechts hin
mustert, hat sich bei mir offenbar als
wichtiges Orientierungsschema auch für andere Situationen
durchgehalten
und dabei weiterentwickelt. Beim vergleichenden Betrachten der
Klassen- und Konfirmationsfotos ehemalige Mitschüler an meiner
zweiten Grundschule (1953-55) fiel mir auf, dass viele von uns bei
der Aufstellung eine ausgeprägte
Vorliebe für eine bestimmte Raumzone
haben.
Ich selbst bin wegen meines wiederholten Schulwechsels nur auf einem
Foto von Anfang 1955 dabei, auf dem ich mich – von mir aus gesehen
– ziemlich außen am linken Flügel (und zwar hinten) aufhalte,
eine Position, die einen guten Überblick gewährt, Kontakte aber nur
zu der einen, rechten Seite hin erforderlich macht. Auf anderen
Gruppenfotos seit 1955 nehme ich auffällig gern – obzwar nicht
durchweg – die nämliche Position ein. Ja, wenn ich
einmal im Geiste alle nur erdenklichen Platzierungen durchgehe, ist
es regelmäßig eine linke Randposition, sei es im Kinosaal, auf
Schulbänken oder in den Hörsälen, ferner neben einzelnen Personen
auf dem Sofa oder bei Spaziergängen, bei kleineren Konferenzen wie
auch an der Theke, im Bus und Flugzeug und anscheinend sogar als
Raumorientierung im Traum. Und es ist schon belustigend oder auch
erschreckend anzusehen, wenn ich einmal in die krasse Gegenposition
vorne rechts außen geraten bin, so als Achtjähriger in der
Jungengruppe eines „Kinder-Erholungsheims”, als ich auf den Boden
blicke und schon zum Weitergehen ansetze; oder als Siebzehnjähriger,
als ich mich mit mürrischem Gesicht von den anderen wegdrehe und
wiederum nach unten schaue! Ein einziges Mal nur scheine ich eine
Ausnahme gemacht und mich freiwillig ins Bildzentrum gestellt zu
haben, nämlich um dort meiner kleinen Spielfreundin „Fränzi”
nahe
zu bleiben.
Zweifellos
handelt es sich hierbei nicht mehr um harmlos-skurrile
Angewohnheiten, sondern um so etwas wie jemandes
räumliche Ausgangs- und Vertrauensbasis,
in der sich schon ein persönlicher Verhaltens- und Annäherungsstil
vorbereitet. Denn nicht bloß das Wohlbefinden hängt von der eigenen
Raumposition ab, auch einige fundamentale Verhaltensweisen scheinen
dadurch begünstigt
oder
blockiert zu werden. So ist meine Position vor allem keine an der
Front, wo man von hinten kontrolliert werden kann; auch keine in der
Mitte, wo man nach allen Seiten hin zu Kontakten genötigt wäre
(dafür in der Menge geschützt oder auch im Mittelpunkt
dastehen könnte). Es ist statt dessen eine Position, in der man sich
wie aus dem Ereignisvordergrund so auch aus dem an Nachbarschaften
und Rivalitäten reichen Mittelfeld so weit zurückgezogen hat, dass
man sich sehr leicht aus dem Ganzen lösen könnte; in der man sich
aber gerade eben noch beteiligt zeigt, denn es ist meist nicht die
auffällige – oder kokette – extreme
Randposition,
sondern eine, die noch um einen Schritt, um zwei Sitzplätze, um
einen noch hinter mir Stehenden stärker in das
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