LEBENSERRETTUNG IM ERINNERN
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Neben dieser aufklärerisch-rekonstruierenden Leistung des Erinnerns, das immer auch die von anderen geteilten Erfahrungen und Lebensräume aufzufrischen vermag, gibt es nun allerdings eine dunklere, narzisstisch getönte Tendenz, die Versuchung nämlich, sich in der Erinnerung wie in einem zweiten, kontemplativen Leben einzurichten und es in seiner selbstbezüglichen Geschlossenheit immer weiter zu perfektionieren. Was ist an dieser Versuchung? Ich denke, ihr sollte bewusst und kritisch nachgegeben werden. Steht hinter ihr doch ein gewaltiges libidinöses Reservoir, das um so mehr zu nutzen wäre, als es die früheste Antriebskraft für meine Erinnerungssuche als Errettung persönlicher Integrität gewesen sein dürfte. Denn zu den unvergesslich großen Erfahrungen meiner Kindheit gehört die, wie ich im Alter von etwa zehn Jahren die triumphale Empfindung hatte, ja von der Gewißheit durchdrungen wurde, nicht sterben zu können! Ein schweres narzisstisches Wahngefühl, das in visionärer Selbstverständlichkeit, ohne Argumente und ohne Vorstellungsinhalte, sich beim Gedanken an den Tod einstellte und sich so auch längere Zeit in mir erhalten konnte. Ähnliches erfährt man von Zeit zu Zeit von anderen. Bei mir war es gewiss die extreme, doch angemessene Reaktion auf meine damalige seelische Krise, auf die Empfindung, mich noch stärker isolieren und mich vor allem auch den von mir als feindselig empfundenen Eltern verschließen zu müssen.
Sicherinnern als bewusst und ausdauernd verfolgte reflexive Lebensthematik hat keinen guten Ruf. Im praktischen Leben als Verplempern seiner Zeit bespöttelt, wird es auch intellektuell rasch als eskapistisch, egozentrisch oder eben narzisstisch diffamiert. Wie bei den anfänglich erwähnten seelischen Abwehrmechanismen und Einschüchterungen dürften hinter diesen Vorhaltungen durchweg Existenzängste stehen, die einen dazu anhalten, das einst Erlebte möglichst nutzbringend oder sinn- und identitätsstiftend in Erinnerung zu rufen: sei es allgemein als Erfahrungsschatz, auf den man zurückgreifen und aus dem man seine Lehren ziehen könne, sei es speziell etwa als Gegenstand therapeutischer Anstrengungen oder dadurch, dass es in Stunden zeremonieller Besinnlichkeit einem flüchtig erwärmenden Gemeinschaftsgefühl hingeopfert wird. Nicht minder verständnislos der beliebte, wie aufgeschlossene und erfahrungslustige radikale Gestus, sich von der eigenen Geschichte zugunsten des „produktiven Blicks nach vorn” abzuwenden, so, als müsste das Aufdecken von Erinnerungsthemen und -strukturen unproduktiv bleiben. Auch eine solche Unempfindlichkeit für die eigene Kindheit und Jugend ist allemal eine Unkultiviertheit und darin eine Barbarei, dass sie all das fraglos gelten lässt, was einem widerfuhr, als man noch besonders beeindruckbar und oft nahezu wehrlos war.
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