Horst Fleig
ERINNERUNGSBILDUNG: ÜBER KINDHEITSERINNERUNGEN
Essay über ihre Faszination, Genese und Erkenntnisleistung
Revidierte Fassung (Januar 2021) der längeren Online-Version von 2006
,,GNOTHI SAUTON’
(uralte
Delphisch-philosophische Forderung, zudem Motto und Haupttitel von
Karl Philipp Moritz' Magazin
zur Erfahrungsseelenkunde)
Als
ich im Spätsommer 1976 nach einem Jahrzehnt wieder an das im Dunkeln
daliegende ehemalige elterliche Wohnhaus trat und auf dem
Klingelschildchen einige Namen las, an die ich seit meinem Wegzug zum
Studium und nach mehreren Wohnungswechseln keinmal mehr gedacht
hatte, widerfuhr mir etwas Wunderliches. Nicht nur war mir, als ob
diese alten Nachbarn feindselig-verknöchert in der Vergangenheit
hocken geblieben wären, sondern als ob auch von mir selbst, dessen
Familienname dort verschwunden war, etwas gleichwohl noch vorhanden
wäre: ein
von mir abgetrenntes jugendliches Ich-Phantom,
das mir, dem vom ausländischen Wohnort wieder Vorbeigekommenen, wie
vorwurfsvoll zu verstehen gab, dass gewisse Lebens- und
Entwicklungsmöglichkeiten für mich für immer verloren
wären.
Seit jener ersten
Rückkehr registriere ich bei der Annäherung an Lebensräume meiner
Kindheit und Jugend öfter eine verwandte, wenn auch viel schwächere
Empfindung. Es ist ein beklommenes Vorgefühl, das sich manchmal
stärker als Ehrfurcht vor dem Älteren in mir selbst ausnimmt und
die Erwartung aufbaut, dieses ältere, noch nicht voll entwickelte
Selbst
oder Selbstgefühl hätte weiterhin Bestand
und wollte mich nun auch durch
materielle Anzeichen davon überzeugen. An Ort und Stelle hat es sich
dann für gewöhnlich so weit verflüchtigt, dass von ihm nur noch
das Fluidum einer hoffnungslos zurückgebliebenen Lebenszeit zu
verspüren ist. Mitunter allerdings ist das schon längst
untergegangen Geglaubte in der Lage, die Gegenwart so massiv zu
infiltrieren, dass der Zurückkehrende die Erfahrung
einer zeitlichen Doppelpräsenz machen
kann. So erging es mir mit den Fahrradstrecken meiner Kindheit und
Jugend, die noch weithin intakt waren. Damals tausendmal befahren,
hatten sie sich in ihrem groben Verlauf fest und wie unantastbar dem
Gedächtnis einprägen können. Beim Wiederabfahren der Strecke
lassen einen nun die vielen zu registrierenden, als solche aber nicht
erinnerbaren Details merkwürdig in der Schwebe zwischen Gegenwart
und Vergangenheit. Ist doch nicht mehr verlässlich zu unterscheiden,
ob sich diese Details in der Zwischenzeit wirklich verändert
haben, oder ob man immer noch das vor sich hat, was man damals
übersah oder, falls man es doch sah, irgendwann einmal vergaß.