Montag, d. 25.8.1997:
Nach dem Hotelfrühstück in Toló fahren wir zu dem nur 30 km entfernten Asklepieion von Epídauros. Das letzte Wegstück führt durch eine Zypressenallee – die Zypresse war dem Gott Asklepios heilig – und bald danach in den Pinienhain des Heiligtums, wo sich schon viele Besucher eingefunden haben. Zunächst besichtigen wir ein architektonisches Juwel, das von Polyklet d. Jüngeren erbaute spätklassische Amphitheater, das als eines der schönsten der Antike und zugleich als das besterhaltene gilt, da es früh verschüttet und erst 1881 durch den griechischen Archäologen Panagis Kavvadias unter einem Buschwald entdeckt wurde. Der sonst so nüchterne Wilhelm Dörpfeld beschreibt seine Eindrücke 1906 wie folgt:
„Wer jemals auf den Stufen des Theaters von Epidauros gesessen und den ganzen Orchestrakreis zu seinen Füssen gesehen hat, der kann diesen Anblick nicht vergessen, und wem es vergönnt war, Teile eines antiken Dramas in der Orchestra aufgeführt zu sehen ... dem wird auch für alle Zeiten beim Lesen eines antiken Dramas gerade das Theater von Epidauros mit seinem Steinkreise als Spielplatz vorschweben.” (In: Das griechische Theater, Athen 1896, S. 123f.)
Das Theater liegt ungefähr 500 Meter Luftlinie südöstlich des Asklepiostempels und der anderen Kultgebäude. Nach dem Vorbild des ebenfalls von Dörpfeld erforschten Athener Dionysos-Theaters war es in einen Hang gebaut und befand sich inmitten der kreisrunden Orchestra ein Dionysos-Altar, von dem noch ein runder Marmorsockel vorhanden ist. Das Amphitheater verfügte Mitte des 3. Jh. v. Chr. über 34 Sitzreihen für annähernd 6.500 Zuschauer und nach seiner Erweiterung (durch Aufschüttung) in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. über 55 Reihen für bis zu 14.000 Besucher. Dieses zuletzt 22 Meter hohe und steile Halbrund (das Koilon) wurde durch elf Treppen keilförmig unterteilt. Nach Lutz Käppel hatte der Baumeister das Pentagramm, „das pythagoreische Symbol für ‚Hygieia’ <‚Gesundheit’> als sinnreiche Grundfigur seines Kunstwerks gewählt. Von ihr aus ist das ganze Koilon entwickelt. Treppenaufgänge und Proskenionfront folgen den Spitzen des Pentagramms.” Hygieia heißt ja auch die Tochter des Asklepios, die ihm zu assistieren pflegte und wie er in Epídauros einen Tempel erhielt sowie als Statuenkopie im dortigen Archäologischen Museum zu sehen ist (beim Füttern einer der heiligen Schlangen). – Wie üblich finden sich auch heute im Zentrum der Orchestra immer wieder Personen ein, die überprüfen lassen, wie gut die fallende Münze, das knisternde Papier oder das Flüstern von anderen Besuchern auf der beinahe 60 Meter entfernten obersten Sitzreihe noch zu vernehmen sind.
Flankiert wird das Theater von den beiden ,Parodoi’-Toren, die jeweils eine doppelten Einlass hatten; durch den breiteren betraten die Zuschauer das Theaterhalbrund, durch den schmaleren die Schauspieler die Bühne; auch während der Aufführung traten der Chor oder etwa Boten durch die Parodoi in die Orchestra. Das mit zwei seitlichen Rampen versehene Proskenion, die von Säulen getragene Bühne für die Schauspieler, war gut 3 ½ Meter hoch.
Das Amphitheater wurde bis ins späte 3. Jh. n. Chr. genutzt, während das Asklepios-Heiligtum wie das des Zeus in Olympia und alle anderen griechischen Heiligtümer erst 426 n. Chr. vom oströmischen Kaiser Theodosius II. als heidnische Einrichtungen geschlossen wurden. – Seit 1938 und regelmäßig ab 1955 finden in Epídauros wieder Theaterfestspiele statt, die überwiegend antike Dramen und Komödien aufführen, in jüngerer Zeit außerdem moderne Dramen wie Shakespeares Othello (2010). 2013 inszenierte übrigens Thomas Ostermeier hier Aristophanes' Komödie Plutos, in der auch eine erfolgreiche Heilbehandlung des von Zeus geblendeten Gottes des Reichtums in dem Asklepieion von Piräus geschildert wird.
Von den Theaterrängen aus bleibt unser Blick auf der gegenüberliegenden dreifachen Staffelung von Hainwald, Bergwald Kynotrion und fernliegendem Arachnaíon-Gebirge (1199 m hoch) hängen. Dieses spielt im Agamemnon des Aischylos, dem ersten Teil seiner Orestie, eine denkwürdige Nebenrolle als letzte Station der Signalfeuer-Stafette, durch die Agamemnon seine Gemahlin Klytämnestra von dem Fall Trojas benachrichtigt. Auf dem Kynotrion (857 m) wurde schon im 2. Jahrtausend v. Chr. ein Heiligtum errichtet, das im 7. Jh. v. Chr. den Vater des Asklepios verehrte, nämlich Apollon unter dem Beinamen Maleatas.
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