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Proust. Doppelgänger
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II  Reiseberichte
III Zu Wim Wenders
IV Film und Kindheit
V Mitschüler/Schulen
VI GERMANISTICA
BESUCH ALS KORREKTIV:  WIEDERSEHEN  UND  -ERKENNEN  NACH  JAHRZEHNTEN

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dass meine Folgerung, der andere hätte sich im Grunde gar nicht verändert, so nicht zu halten wäre? Ich ging daher meine Auf­zeich­nungen, die ich mir oft in den ersten Stunden nach einem Besuch gemacht hatte, in dieser Hinsicht genauer durch:


Die wichtigsten Elemente bei der Wiedererkennung waren Stimme, Körperhaltung und emotionale Reaktion des anderen, weniger geistige Merkmale wie Argumentations- und Ausdrucksweise, auf die ich erst in später Jugend genauer achtzugeben verstand. Was den allerersten Wiederanblick der Person betrifft, so gab es niemanden, den ich nicht auf Anhieb oder nach Sekunden wie­der­erkannt hätte; selbst dann nicht, wenn ich vorher die Physiognomie nicht mehr aus der Erinnerung heraus zu beschreiben wuss­te. In diesem Fall waren bei mir offenbar sogleich intuitive oder unbewusste Mechanismen der Identifizierung am Werk. Und si­cher­lich auch immer dann, wenn ich jemandes Ausstrahlung zu erfassen suchte, das, was mich an der Person einst faszinierte und sie nicht hatte vergessen lassen. Merkmale, die sich bei dem anderen nun ihrerseits weithin unwillkürlich oder unbewusst her­aus­ge­bildet haben dürften, so dass sie nicht so leicht zu überspielen sind und meist noch nach Jahrzehnten kennt­lich bleiben. Und doch – selbst wenn sich die gewisse persönliche Ausstrahlung auf diese Weise durchhalten konnte, bleibt da immer noch je­ne Kardinalfrage, ob ich mich nicht als Kind und Jugendlicher allzu leicht durch Auffälligkeiten beeindrucken ließ, die gleichwohl unwesentlich waren. So dass meine Wiedererkennungsfreude oder auch Enttäuschung nicht unbedingt etwas darüber besagte, ob und inwiefern der Betreffende sich nun wirklich verändert hatte oder nicht. Und hat nicht ein jeder zu einem bestimmten Zeit­punkt auch unentfaltete Eigenschaften, die zu seinem Wesen gehören und die man als entfaltete dann als wesensfremd verkennen müsste?


Dessen eingedenk, stelle ich im Folgenden kursorisch eine Reihe von weithin anonymisierten Personen vor, vermerke die un­ge­fäh­re Zeitentiefe unserer Wiederbegegnung und behalte auch im Auge, ob das, was ich über den anderen und über mich erfuhr, wirk­lich so wenig Einfluss auf meine Erinnerungsbildung und auf mein Selbstverständnis hatte.


*


Nach 44 Jahren besuchte ich meinen Erst- und Zweitklasslehrer, den ich in der Erinnerung nur noch vage zu beschreiben wusste: „Er ist jung und ist ernst. Ich fühle mich bei ihm wohl. Er trägt ein helles Sakko und hat gewelltes dunkles Haar.” Monate vor meinem Besuch hatte mir einer seiner langjährigen Kollegen Schulphotos zugesandt, auf denen ich ihn ohne weiteres erkannte. Obgleich mir dann nicht einmal die Stimme dieses Lehrers, der sich als „Slowakendeutscher” bezeichnete, bekannt vorkam,

 

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