Von
der Piazza di Quattro Canti aus laufen wir noch ein Stück auf der
Via Vittorio Emanuele weiter und biegen in die Via Roma
nördlich zum Archäologischen Museum hin ab. Ich muss auflachen,
als ich dann die überbreite stufenreiche Freitreppe
eines pompösen Gebäudes mit 30 Meter hohen Säulen
erklimme und bemerke, dass mich dort oben nicht das vermutete
Museum erwartet, sondern einer der unter Mussolini
errichteten faschistischen Postpaläste!
In Palermo fiel das Gebäude besonders kolossal aus, da es als
Kommunikationszentrale zwischen Italien und seinen
afrikanischen Kolonien angelegt wurde.
Untergebracht
ist das Archäologische
Regionalmuseum ,Antonino Salinas’
einige
hunderte Meter weiter im ehemaligen Ordenshaus der Kongregation des
„humoristischen
Heiligen”
Filippo
Neri (so Goethe
in
seiner Würdigung). Unter den vielen kostbaren Exponaten
vor allem aus Westsizilien nenne ich hier nur die Metopenskulpturen
aus Selinunt mit dem soeben von Hunden zerfleischten Aktäon
und dem Medusa enthauptenden Perseus, auch eine in
Pompeji gefundene Bronzeskulptur des Herakles, der die heilige
Hirschkuh der Artemis an ihrem goldenen Geweih
behutsam zu Boden drückt (eine römische Kopie nach Lysipp).
Von
den beiden wohl ebenfalls aus Lysipps Schule
stammenden hingelagerten Bronzewiddern hingegen, die Goethe so
bewunderte, hat sich nur noch einer erhalten,
der andere wurde während der Aufstandskämpfe
von 1848 zerstört. Goethe sah sie am 11. April 1787 noch im
Museumstrakt des Normannenpalastes und
schrieb:
„Sie sind liegend vorgestellt,
die eine Pfote vorwärts, als Gegenbilder die Köpfe nach
verschiedenen Seiten gekehrt; mächtige Gestalten aus
der mythologischen Familie, Phrixus und Helle zu tragen
würdig. Die
Wolle nicht kurz und kraus, sondern lang und wellenartig
herabfallend, mit großer Wahrheit und Eleganz
gebildet, aus der besten griechischen Zeit. Sie sollen in dem Hafen von
Syrakus
gestanden haben.”
Es
war Hermes, der jenem Geschwisterpaar vor dem drohenden Opfertod den
geflügelten Widder mit dem Goldenen Vlies zu Hilfe sandte und es durch
die Lüfte davontragen ließ. In einer der Vitrinen, die
unter anderem muschelüberwachsene
antike Kriegerhelme präsentieren, erblicke
ich dann eine faszinierende Statuette meiner Lieblingsgottheit: Eine
etwas mitgenommene Terracottaskulptur vom Typus
,Hermes Kriophoros’,
der als Vorläufer des ,Guten Hirten’ Jesus
einen Widder auf den Schultern trägt.
Hermes wurde nicht
allein als ,Hermes Kriophóros’ zum äußeren Vorbild für den
,Guten Hirten’ Christus, sondern war ja, wie vorhin
für die Piazza di Quattro Canti angesprochen, selber schon als
,Hermes Psychopompos’ der Seelenführer des
Menschen. Neben Christus, der speziell in den römischen
Katakomben als ,Guter Hirte’ dargestellt wurde, wird seit
Beginn des 18. Jh. auch Maria als ,Divina
Pastora de las Almas’ gefeiert,
als Seelenführerin mit dem klassischen
Hirtenstab und dem einen oder anderen Schäfchen an der
Seite. Hermes wäre in dieser geistesgeschichtlichen
Hinsicht als eher unfreiwilliger Stifter des
Jesus-und-Maria-Kultes zu betrachten. Denn er selber
trug ja keineswegs zu dieser Christi Opfertod feiernden und
selber immer wieder Menschen opfernden oder sie
bevormundenden Ideologie bei, an die uns beide kaum einer
Viertelstunde später der Inquisitionspalast von Palermo erinnern
wird. Vielmehr inspirierte Hermes von Kindesbeinen an zu einem
listigen und erfinderischen Widerstand gegen
übermächtige und rohe Gewalt. Exemplarisch für
diese leidens- und widerstandsfähige Mentalität auch
des Menschen wurde das Leben von Hermes' Urenkel
Odysseus, der sich auch durch Kalypsos Angebot einer
gottgleichen Unsterblichkeit nicht bestechen ließ.