Peloponnes im 10. oder 9. Jh. v. Chr.; es hatte damals nur einen bescheidenen Erdaltar, erhielt im 7. Jh. einen hölzernen Tempel und zu Beginn des 6. Jh. den Steintempel, von dem sich nur noch Fundamente und Mauerteile der südlichen Ecke erhalten haben. Von dem gut acht Jahrhunderte später erbauten römischen Amphitheater gibt es ebenfalls nur noch Mauerreste. – Die Ausgrabungen führt seit 1906 die British School at Athens durch.
Den Beiname „Orthía” deutet Pausanías in seiner ,Beschreibung Griechenlands’ als „die Aufrechte”, vermerkt aber auch die andere Deutung, wonach das geschnitzte Kultbild der Göttin der Jagd in einem Weidengestrüpp „aufrecht stehend” gefunden wurde (III 16, 11). Die erste Bedeutungsangabe ist um so plausibler, als die Griechen einst den Kult einer vorderasiatischen Göttin namens Orthia übernommen hatten und diese im Lauf der Zeit mehr oder minder stark mit Artemis identifizierten.
Nach Pausanías war es Orest, der spätere Herrscher von Mykene und König von Sparta, der mithilfe seiner nach Tauris entrückten Schwester und dortigen Artemis-Priesterin Iphigenie das Kultbild (das Xoánon) nach Sparta brachte und sich so als der von den Erinnyen verfolgte Muttermörder entsühnen konnte. Mit der Vorgeschichte wurde ich schon im 2. Schuljahr dank der Tchibo-Hefte mit Eduard Wildhagens Nacherzählungen der ,Ilias’ und ,Odyssee’ bekannt: Wie Agamemnon frevelhaft die der Artemis heilige Hirschkuh tötet und die entzürnte Göttin in Aulis die gen Troja aufbrechende griechische Flotte durch eine Windstille festhält; dass Agamemnon am Altar der Artemis seine Tochter Iphigenie opfern soll, diese aber von der sich erbarmenden Göttin nach Tauris ans Schwarze Meer entrückt wird. Mit ihrem Bruder Orest gar wurde ich als zehn- oder elfjähriger Schüler persönlich verbunden, als mein Lateinlehrer als antike Entsprechung meines deutschen Vornamens „Orest(us)” angab. Obgleich ich um die tragischen Hintergründe wusste, gefiel mir diese scherzhafte Identifizierung per Namensanklang sehr.
Als der Reiseschriftsteller Pausanías Mitte des 2. Jh. n. Chr. Sparta besichtigte, existierte das römische Amphitheater beim Artemis-Tempel noch nicht. Er schildert aber eindrücklich die Flagellation der Jugendlichen, die zur Errichtung dieses kleinen Theaters führte. Ein Orakelspruch, so hebt er an, verlangte ursprünglich die Befleckung des Altars mit menschlichem Blut:
„Als geopfert wurde, wen das Los traf, ersetzte Lykurgos das durch die Geißelung der Epheben, und so wird der Altar ebenfalls mit Menschenblut bespritzt. Die Priesterin steht mit dem Holzbild daneben. Das ist sonst leicht durch seine Kleinheit, wenn aber jemand aus Rücksicht auf Schönheit oder Rang eines Epheben vorsichtig schlägt, dann wird das Bild für die Frau zu schwer und nicht mehr leicht tragbar. Sie beschuldigt die Geißelnden und sagt, wie werde ihretwegen bedrückt. So ist es dem Kultbild von den Opfern in Tauris her geblieben, sich immer noch an Menschenblut zu freuen.” (III 16, 10-11; a.a.O., Bd. 1, S. 166f.)
Nach den Aussagen von Xenophon, Plato und anderen war das Ritual lange Zeit ein Kampfspiel, in dem die eine Hälfte der Epheben versuchte, möglichst viele der auf dem Altar der Artemis ausgelegten Käsestücke zu rauben, während die andere Hälfte es mit Peitschenhieben verteidigte. Erst unter römischer Herrschaft mutierte es zu dem von Pausanías beschriebenen sadistischen Ritual der Diamastígosis, bei der alle Epheben ohne die Möglichkeiten taktischen Verhaltens ausgepeitscht wurden; mit dem Bau des Amphitheaters wurde die Mannbarkeitsprüfung vollends zur Volksunterhaltung pervertiert, bei der die oft von weither Angereisten sich an dem blutigen Spektakel ergötzen konnten. Bei dieser Zuschauerkulisse wurden immer wieder Jugendliche zu Tode gepeitscht. Auch sie erhielten die Siegesstele für das Ertragen extremer Schmerzen. Diese Stele war mit einer Bronze- oder Eisensichel verziert, die auf Artemis' Rolle als Göttin der Fruchtbarkeit und Beschützerin der Heranwachsenden verwies – und auch auf die Wortbedeutung von „Sparta” („Saatboden”).
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