Quellen: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a1/Gortys_R02.jpg www.interkriti.org/crete_image_library/?pg=1&keys=f3Gortyna_Akropolis www.cretanbeaches.com/images/stories/history/archaeology/roman/gortys/law.jpg https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtrecht_von_Gortys#/media/File:Gortys_Law_Code.jpg https://de.wikipedia.org/wiki/Federico_Halbherr
Mittw. 24.8.05:
Wir
räumen heute früh unser Appartement in der kleinen Hotelanlage von
Sívas und fahren weiter durch die Messará-Tiefebene in Richtung
Ierápetra. Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir unser erstes
Ziel, das Grabungsgelände von Gortýn/Górtis.
Die Stadt stieg nach dem Niedergang von Phaistós und Agía Triáda
um 1200 v. Chr. zum Zentrum Südkretas auf und wurde im
Schiffskatalog der ‚Ilias’
als „die festummauerte Gortyn” (2, 646) unter Kretas Städten
hervorgehoben; mit dem drittmächtigsten griechischen Geschwader
von 80 Schiffen segelte Homer zufolge Kretas König Idomeneus, der
Enkel des Zeus-Sohnes Minos, gen Troja. Auch unter den seit ca. 1100
v. Chr. Kreta beherrschenden griechischen Dorern florierte Gortýn,
wurde zur selbständigen Polis und schließlich im Jahre 67 v. Chr.
als Vasall Roms zur Hauptstadt von Kreta und der auch Ostlibyen
umfassenden Provinz Creta et Cyrenaica.
Hohes
Aufsehen erregte 1884 der Fund der italienischen Ausgräber um
Federico Halbherr und den deutschen Archäologen Ernst Fabricius, als
sie schon zu Beginn der Ausgrabung den bislang ältesten für Europa
bekannten Gesetzeskodex
fanden, der in 42 Kalksteinquader eingemeißelt war. Dieses um 450 v.
Chr. in einem altdorischen Dialekt verfasste Stadtrecht befand
sich ursprünglich an der Außenwand eines nicht mehr erhaltenen
Gebäudes und wurde Jahrhunderte später in der Außenwand des
römischen Odeons verbaut. Der Text verläuft „boustrophedon”
oder „wie der pflügende Ochse”, was heißt, dass die
Buchstabenführung jeder zweiten Zeile linksläufig verläuft
und so wie in Spiegelschrift hinzugesetzt wurde. Inhaltlich geht es
in diesen über 600 Textzeilen unter anderem um den Status der
Sklaven, um ein ausgeklügeltes Scheidungs- und
Erbschaftsrecht, um Adoption, Hypotheken, nach dem sozialen Status
abgestufte Geldstrafen für Vergewaltigung oder um das Mindestalter
der Ehepartnerin (12 Jahre). Der Codex ist stark
patriarchalisch geprägt, doch wurden auch den Frauen etwa nach der
Scheidung bestimmte (Vermögens-)Rechte garantiert. Nach jener
Entdeckung der „Großen Inschrift” oder „Königin der
Inschriften” wird jedenfalls verständlicher, warum Gortýns
Gesetzgebung und Staatswesen sogar von Platon und Aristoteles
beifällig bedacht wurden.
Die
Quader hat man in situ belassen und durch das neuerbaute überdachte
Gebäude hinter dem Halbrund der marmornen Sitzreihen des Odeons
geschützt. – Gut 50 Meter gegenüber den Resten des Odeons
befindet sich eine relativ gut erhaltene byzantinische Kirche aus dem
6. Jh. n. Chr. und bei dem Flüsschen hinter dem Odeon ein
Nachkömmling der sagenumrankten Platane, unter der nach seiner
Anlandung in Mátala Zeus
mit der phönizischen Königstochter Europa den
Minos zeugte. Dank
dieser Hohen Paarung soll die – endemische, nur auf Kreta
vorkommende – immergrüne Platane ihre Blätter nie mehr verloren
haben.
Eine
im Amphitheater von Gortýn gefundene Marmorgruppe mit Europa und dem
göttlichen Stier wurde 1862 in das Britische Museum entführt,
das heißt „verkauft” wie schon der erste Quaderblock der „Großen
Inschrift” 1857 an den Louvre,
während ein Sonderkommando des deutschen
Auswärtigen Amtes 1941 Kunstschätze und andere Kulturgüter
auf Kreta einfach beschlagnahmte.
Wir
verlassen den Bereich der Agorá und erkraxeln die Akropolis
von Gortýn. Die
von unten aus sichtbaren Überreste einer Wehrmauer gehören nicht
mehr zu der in Homers ‚Ilias’
erwähnten
Ummauerung, sondern stammen überwiegend aus der byzantinischen
Epoche der Stadt. Neben der Ruine eines römischen Gebäudes
(„Kastro”) finden sich noch Reste eines dorischen
Athenatempels mit Opferaltar und -grube aus dem frühen 7. Jh. v.
Chr.; ursprünglich wurde hier wohl einer minoischen Göttin
geopfert, ehe die Stätte Athena als Beschützerin der Stadt
gewidmet wurde. Eine in Gortýn ausgegrabene aparte
Tonstatuette dieser
einst einen Speer in der Rechten und vermutlich einem
Spinnrocken in der Linken tragenden „Athena
Poliás/Polioúchos” befindet
sich nun im AMI-Museum von Iráklio.
- 16 -