Am
Nachmittag gehen wir das kurze Wegstück auf die Spreeinsel hinüber,
um uns den Palast
der Republik
genauer anzuschauen. Aus unerklärlichen Gründen ist er aber heute
nicht zu betreten („Blauer Montag“?). Selbstverständlich
haben wir keinen stalinistischen Monsterbau wie den uns 2013
verstörende Kulturpalast in Warschau vor Augen. In seiner Quaderform
und goldbraunen oder bronzefarbenen Verglasung ähnelt er jedoch sehr
dem Prager Kulturpalast, den wir erst vor Wochen sahen und als
klotzigen Angeber in Erinnerung haben.
Das
in der Nähe der „Palasthotels“ liegende aufwendig restaurierte
Nikolaiviertel,
der älteste Stadtteil von Berlin, erscheint auf Anhieb als „zu
schön, um wahr zu sein“, doch kommen wir zuletzt zu dem
ernüchterten Urteil: „Fake“. Denn das Ganze ist eine
Collage von wenigen erhaltenen Bürgerhäusern und vielen
historisierend aufgemachten Neubauten. So hat man eine barocke Kopie
der ursprünglich spätgotischen Gerichtslaube als verputztes
Fertigbauteil ins Viertel eingefügt und etliche Gebäude mit
verschnörkelt dekorierten Plattenbau-Fassaden versehen. Während das
Lessinghaus als weitgehend originalgetreue Wiedererrichtung gilt, ist
das von Zille frequentierte und im 2. Weltkrieg zerbombte
Neuköllner Gasthaus „Zum Nußbaum“ nun im Nikolaiviertel mit
kleinem Biergarten erneuert auferstanden. Sogar das überraschend
üppige Gemüseangebot des Viertels muss man vor dem Hintergrund
dieser vielen Fake-Installationen als Irreführung bezeichnen.
Umringt wird das Nikolai-Idyll von einer achtspurigen Autostraße,
der Spree und einer dahinterliegenden langen Kolonne authentischer
Plattenbau-Hochhäuser.
Wir
nutzen wieder das Auto und fahren in Richtung Prenzlauer
Berg,
wo wir eine wuselige Lebendigkeit vorfinden, Häuserrenovierungen mit
Maß und Verstand und dann eine schon luxuriöse Eisdiele am Rande
(„Eisbär“). Als wir auf der abschüssigen Prenzlauer Schlagader
neben der S-Bahn zurückfahren, halten uns Vopos wegen angeblicher
Geschwindigkeitsüberschreitung an. Auf meine Frage, an welcher
Stelle ich zu schnell gewesen wäre, reagiert der Polizist
unwirsch, wird aber bei meinem Insistieren unsicher, da für eine
solche Diskussion offenbar nicht ausgebildet. Ein ebenfalls
angehaltener Motorradfahrer grinst zu mir herüber. Polizisten trifft
man im Umkreis des „Palasthotels“ auf Schritt und Tritt an,
viele sind wie die jetzigen mit Sprechfunkgeräten ausgestattet.
Wir
fahren weiter bis zur Mauer
am Brandenburger Tor;
gut zwei Dutzend DDR-Bürger, von der Polizei beobachtet, sind dort
und schießen Erinnerungsfotos, oft verlegen lächelnd. Eine gewisse
Anspannung kommt auf, als zwei ältere Frauen vom Tor her durch die
rund 200 Meter tiefe Sicherheitszone kommen (sie hatten womöglich
nur einen kleinen Auftrag an der Grenze oder für die Grenzpolizisten
zu erledigen).
Die.
21.7.87) Am Morgen machen wir uns auf dem einstündigen Weg südwärts
nach Luckenwalde, wo wir Verwandte von Ruth besuchen. Über
weite Strecken hin gleiten wir auf schönen Alleen und renovierten
Straßen dahin. In Luckenwalde, Rudi Dutschkes Geburtsstadt,
sehen wir am Marktplatz halb verfallene neben jüngst renovierten
Häuser; eine russische Wolga hält hier soeben, und zwei russische
Offiziere steigen aus. Auf der Rückfahrt werden wir kurz vor Berlin
ein andermal kontrolliert; einer der Volkspolizisten erzählt, dass
oft „Raser“ mit Tempo 130 von der Transitautobahn abkämen und
ohne Visum nach Ostberlin hineinzukommen versuchten.
Wir
suchen noch die Akademie
der Wissenschaften am
Gendarmenmarkt auf, deren Mitarbeiter am Goethe-Wörterbuch mit uns
Tübingern von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften seit
einigen Jahrzehnten zusammen arbeiten. Einen Spontanbesuch
dieser Kollegen lasse ich aber sein, als ich in der Pförtnerloge
einen Volkspolizisten erblicke. Sekunden später tritt eine junge
Frau aus dem Gebäude, erblickt uns westlich Gekleidete und bemerkt:
„Welch ein schöner Anblick!.“
Vor
einem modernen Steakrestaurant hat sich eine Menschenschlange
gebildet; wir wollen es probieren und stellen uns an, lassen es aber
bald sein, als zu bemerken ist, dass drinnen an den beiden
hufeisenförmigen Tischen immer eine ganze Gruppe ihr Essen
bestellt und schichtweise wieder abrückt, so dass kein individueller
Verzehr möglich ist. –
Im Intershop des
„Palasthotels“ sind auch westliche Waren wie Whiskey gut 10%
preiswerter als in Westdeutschland, so dass manche Hotelgäste
danach greifen.
- 6 -