JOHANN GOTTFRIED HERDER
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obern Kräfte”.11 In seiner weiteren Entwicklung sei es zwar retardiert, werde aber dank dieser verlängerten Jugend lernfähig gehalten und auf eine Erziehung durch das ganze Leben hin vorbereitet.12 Wohl fehle dem Menschen „der hinreißende, blinde Instinkt” der Tiere, doch sei er dessen nicht beraubt, sondern beherrsche und verfeinere ihn durch seine Vernunft.13
In seiner 1770 als Preisschrift vorgelegten Abhandlung über den Ursprung der Sprache betont Herder noch stärker die im Vergleich mit dem Tier mangelhafte biologische Ausstattung des Menschen, leitet aber auch hier schon durchweg auf die ihm statt dessen mitgegebenen geistigen Vorzüge über:
„Als nacktes, instinktloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen. Da ist kein dunkler, angeborner Trieb, der ihn in seinem Element und in seinem Würkungskreise, zu seinem Unterhalt und an sein Geschäfte zeucht. ... Schwach und unterliegend ... einem tausendfachen Tode überlassen, steht er da! ... Doch ... es ist nur eine Seite seiner Oberfläche ... Das instinktlose, elende Geschöpf, was so verlassen aus den Händen der Natur kam, war auch vom ersten Augenblicke an das freitätige, vernünftige Geschöpf, das sich selbst helfen sollte und nicht anders als konnte. Alle Mängel und Bedürfnisse als Tier waren dringende Anlässe, sich mit allen Kräften als Mensch zu zeigen; so wie diese Kräfte der Menschheit nicht etwa bloß schwache Schadloshaltungen gegen die ihm versagten größern Tier-Vollkommenheiten waren, wie unsre neue Philosophie, die große Gönnerin der Tiere, will, sondern sie waren ohne Vergleichung und eigentliche Gegeneinandermessung seine Art! Der Mittelpunkt seiner Schwere, die Hauptrichtung seiner Seelenwürkungen fiel so auf diesen Verstand, auf menschliche Besonnenheit hin, wie bei der Biene sogleich aufs Saugen und Bauen.”14
Herders Seitenhieb auf den Begriff einer „Schadloshaltung” für die angesprochenen „Mängel” und „Lücken” richtet sich gegen jedwede Art von Kompensationstheorie, wie sie ihm ironischerweise später selber als These vom Menschen als -------------------------------------------------------------------------------------
12 a.a.O., S. 123 und 126 13 a.a.O., S. 213, 94 und 118 14 Zitiert nach der von Hans Dietrich Irmscher hg. Reclam-Ausgabe (Stuttgart 2002), S. 80f.
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