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VI GERMANISTICA

DOPPELGÄNGER  ALS  SELBSTERWEITERUNGEN

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einst empfand, sondern hatte es visionär vor Augen, wobei die begleitenden oder gar auslösenden freundschaftlichen Empfindungen meines Wissens eben um einiges stärker waren, als ich sie als Jugendlicher je empfunden hatte. Und stellte sich bei Proust in der Erfahrung eines solch zeitenüberdauernden ‚Ich’ das Glücksgefühl persönlicher Unsterblichkeit ein, dann erschien hier, bei al­ler Freude, zunächst einmal die mit der Gestalt des Doppelgängers unabweisbare Empfindung einer Selbstablösung oder -auf­he­bung. Diesmal aber ohne die beängstigenden, anklagenden oder gar feindseligen Komponenten, die mich sonst dabei so be­frem­det hatten und die ich vorhin als Bedrohung des Zähesten in mir deutete, meines Glaubens an die persönliche Un­zer­stör­bar­keit. Dieser letzte Doppelgänger dagegen schien nicht die Auflösung meiner selbst und damit den Tod in Aussicht zu stellen, son­dern eine freundschaftliche Erweiterung des Selbst zu verkörpern. Und wirklich erst jetzt? Legten mir nicht, recht ver­standen, auch schon meine früheren Ichphantome nahe, auf das zu achten, was von mir nicht mitgekommen war und in dieser Er­in­ne­rungs­ar­beit vielleicht wieder eingeholt werden sollte?

   Denn den Anstoß zu meiner schriftlichen Erinnerung gab ja 1976 die Alter-ego-Empfindung angesichts des Klingelschildchens an dem ehemaligen elterlichen Mietshaus:

Nicht nur war mir, als ob diese alten Nachbarn feindselig-verknöchert in der Vergangenheit hockengeblieben wären, son­dern als ob auch von mir selbst, dessen Familienname dort verschwunden war, etwas gleichwohl noch vorhanden wäre: ein von mir abgetrenntes jugendliches Ich-Phantom, das mir, dem vom ausländischen Wohnort wieder Vorbeigekommenen, wie vorwurfsvoll zu verstehen gab, dass gewisse Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten für mich für immer verloren wären.

Dass ich dies als Vorwurf empfand, bedeutet denn doch, der behaupteten Unwiederbringlichkeit des Verlorenen zum Trotz, dass ich mich selbst noch für dialogfähig hielt, offen für eine Antwort, die ich mir tatsächlich bis heute zu geben suche. Im Laufe die­ser Erinnerungen ging mir dann beim Betrachten der Umgebung jenes Wohnhauses auf, dass sich dort schon seit ungefähr 1975, einem Jahrzehnt nach meinem Wegzug, andere Phantomvorstellungen angelagert hatten, darunter drei mehr oder minder ver­kapp­te Alter-ego-Figuren: der junge Klaus Kinski als irrsinnige Verbrechergestalt in Edgar-Wallace-Verfilmungen, der schattenlose Flücht­ling und Forscher Peter Schlemihl sowie ein anonymer, von der eigenen Bibliothek erschlagener Bücherfreund.

   Wie das Ichphantom beim Klingelschild scheinen diese drei meine Jugend und ihre Fluchtziele zu repräsentieren, weithin ohne Ich­ge­fühl zwar und anonym, dafür aber drastischer darin, wie sie auf das immer wieder auch Zwielichtige meiner Herkunft zu­rück­deu­ten, von der ich, wie ich empfand, mich nicht mehr würde davonstehlen können. Dies habe ich inzwischen akzeptiert und be­trach­te jenen Klingelschild-Vorwurf, Möglichkeiten meiner Entwicklung verschleppt oder auch liegengelassen zu haben, schon längst als nur zu evident.

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