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Über das Vergessen
Biogr. Stimmigkeit
Proust. Doppelgänger
Selbsterweiterungen
II  Reiseberichte
III Zu Wim Wenders
IV Film und Kindheit
V Mitschüler/Schulen
VI GERMANISTICA
ERINNERUNGSSTEUERNDE  PHANTASIE

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Kaum anders als den Personen – auch den einst gefürchteten – erging es vielen Schauplätzen. Manch Erinnerungsbild an Filme des Acht- bis Zehnjährigen erscheint mir auf vertraute Straßen, Plätze oder Zimmereinrichtungen projiziert, wobei durchweg ein sachgemäßer Zusammenhang zwischen Vorstellungsbild und Ort festzustellen ist. Von fundamentaler Bedeutung für die Er­inne­rungs­bildung aber sind die AURAPHANTASIEN, diese Lektüre- und Phantasiebilder, die sich den zentralen Stätten der Kindheit und Ju­gend hinzugesellt und mitunter die eigentliche szenische Erinnerung überlagert haben. Auf eine noch naive assoziative Weise trug sich dies für den Lieblingsspielplatz des Fünf- bis Siebenjährigen an seinem „Ulliquacker”-Bach zu, der sich im Laufe weniger Jahre in eine tierdämonische Landschaft um den Klapperstorch verwandelte. Sachbezogener sind die späteren Phantasiebilder, die meinen in der Sexta bis Quarta gelernten Totengedichten entstammten und mein letztes Wegstück vor dem Gymnasium zu einem Zugang in die Unterwelt machten; mir damals nicht bewusst, aber so gebieterisch, dass sie noch Jahrzehnte später ver­wand­te Gewalt- oder auch Rachephantasien an sich ziehen konnten. Und von solchen Bildern regelmäßig umstellt ist mein Elternhaus:

   Das Rondell vor dem Haus der Großmutter hat sich in mir zu einer Gedenkstätte an den frühen Tod der dortigen Spielfreundin verwandelt; die unserer nächsten Wohnung gegenüberliegenden Rheinwiesen sind von Märchen- und Romanszenen umsäumt; über dem Elternhaus des Acht- bis Zwölfjährigen steht das Blutsonnenbild des erschlagenen Heideknaben; bei meinem letzten Elternhaus sind weitere Alter-ego-Figuren wie Klaus Kinski und Peter Schlemihl angesiedelt, in denen sich die allmähliche Neutra­lisierung väterlicher Hausgewalt dokumentiert und neben dem mir nun möglichen Widerstand sich auch eine denkbare Rekulti­vierung meiner Herkunft anmeldet. Mögen all diese Auraphantasien sich mitunter auch wie Halluzinationen ausnehmen, plakativ und tendenziös sein, so sind sie doch durchweg triftig. Und derart lebendig und subversiv, dass sie sogar als Menetekel, als Angst- und Schreckensbilder meist noch offen für Antworten auch des Erwachsenen blieben! So hat die mir weithin unbewusste, phan­tasiegesteuerte Erinnerung meine wichtigsten Lebensstätten transzendieren können, indem sie aus ihnen zugleich Orte der Ima­gination, des Eingedenkens, des Widerstandes und der Neuorientierung machte.

 

Gewiss, Phantasien und Erwartungen spielen immer auch in unsere jeweilige Gegenwart hinein, prägen sie aber nicht annähernd so massiv und nachhaltig, wie es in dem langen unwillkürlichen, schon in der Kindheit einsetzenden Prozess der Er­in­ne­rungs­bil­dung geschehen ist. Inwieweit diese und andere Ergebnisse meiner Selbstbeobachtung sich verallgemeinern lassen, kann ich nicht beurteilen, vermute es aber schon deshalb, weil ich selber solchen Phänomenen lange Zeit keine weitere Beachtung schenkte. Die künstlerische Phantasie allerdings dürfte ihre eigenen zeitüberschreitenden Wege gehen und einen Er­in­ne­rungs­pro­zess absolvieren, der auf kaum durchschaubare Weise sich erfinderisch mit den gegenwärtigen Erfahrungen verquickt und es in dieser Gestalt neu in die Welt setzt.

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