Die.
12.8.86) Unsere erste Visite gilt Freuds ehemaliger Wohnung und
Praxis in der Berggasse.
Diese „Gasse“ ist eine breite Straße mit hohen Bürgerhäusern,
und Nr. 19, wo Freud von 1891 bis 1938 wohnte und arbeitete, hat ein
elegantes Treppenhaus vorzuweisen, das den Besucher zunächst in das
Wartezimmer führt. An den Wänden hängen Stiche mit mythologischen
Themen, Freuds Diplome sowie Fotografien aus dem Freundeskreis; auf
dem Foto ist in der 2. Reihe links eine Reproduktion des Gemäldes
‚Der
Nachtmahr‘ von
J. H. Füssli zu erkennen. Die drei als Museum eingerichteten Zimmer
sind übersät mit Fotos, Dokumenten und archäologischen
Schaustücken, so dass man sich nach einiger Zeit wie in Ali Babas
Schatzhöhle vorkommen mag. Zudem belegen sie die Triftigkeit
von Freuds Selbsteinschätzung, dass seine Tiefenpsychologie mit der
archäologischen Grabungsarbeit verwandt sei. Jeder Besucher erhält
ein Büchlein mit durchnummerierten Erläuterungstexten mit auf
den Weg, muss freilich bei einem für ihn interessanten Objekt
jedesmal umständlich nachschlagen. Scherzhaft und leicht eitel
Freuds hier im Druck zu lesende Frage an Wilhelm Fliess, ob ihm
vielleicht im Bellevue-Park ein Denkmal für die dortige
Initialzündung zu seine Traumdeutung zu errichten wäre
(tatsächlich hat er ein solches 1977 auf der Bellevue-Wiese durch
die Sigmund-Freud-Gesellschaft erhalten). Nur gut übrigens,
dass man für das Behandlungszimmer nicht versucht hat, eine Replik
seiner 1938 mit ihm ins englische Exil gegangenen Analyse-Couch
anzufertigen.
Wir
fahren danach zu der am Heldenplatz gelegenen Nationalbibliothek.
Im abscheulichen Prinz-Eugen-Prunksaal erwarten uns turmhohe
goldbraune Bücherwände, die allenfalls mit Eroberungsleitern
zu erstürmen wären. Interessant hingegen die Papyrussammlung mit
Hieroglyphen und vielen ägyptischen und griechischen
Verwaltungstexten in Ton oder Schiefer; auch Ostraka-Tonscherben sind
hier zu sehen. Auf der Suche nach Personen-Registern verirren wir uns
in ein Nebengebäude und fahren mit Magazin-Fahrstühlen an kafkaesk
verwinkelten Treppenschächten entlang. Der Hauptlesesaal ist bar
jeder Pracht, ja man sitzt hier wie in einem langen Eisenbahnabteil
und zum Teil einander gegenüber. Die Bestände sind entsprechend
dürftig (Goethe-Ausgaben nur aus dem 20. Jh. und kein Titel des
Wienbesuchers August Klingemann). Leserkarten werden zwar in Sekunden
ausgestellt, aber erst am nächsten Morgen kann man mit der Lektüre
beginnen! Wegen der Bücher des Braunschweiger Theaterdirektors
Klingemann werde ich auf die Theaterabteilung um die Ecke verwiesen,
die aber heute wie am Dienstag jeder 2. Woche geschlossen ist.
Draußen
prasseln entsetzliche Regengüsse, vor denen wir in einem Café am
Josefsplatz Zuflucht suchen. Dann machen wir uns auf den Weg zur
Kapuzinergruft,
der Familiengrabstätte der Habsburger. Und
haben bald genug von all den Prunksarkophagen, speziell denen aus
Blei, die möglicherweise von der Zinnpest befallen wurden und nur
mit Schutzhandschuhen restauriert werden dürfen. P.S.:
Um 2003 konnte man die Zinnpest als Ursache ausschließen, vielmehr
lag es an der zu hohen Luftfeuchtigkeit, gegen die dann eine
Klimaanlage installiert wurde. – Gern hätten wir noch das „Theater
an der Wien“ besucht, das einst neben Beethovens ‚Fidelio'
auch Stücke von
Klingemann aufführte, doch spielt man dort heute das Musical ‚Cats'.
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