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selber
von Kultur und Geschichte des Menschen so weit entfernen,
daß er kein Verständnis mehr für sie aufbringen kann und mit ihr
definitiv bricht, vorsätzlich oder auch nolens volens.
Weiterhin geht es um die Verteidigung der weltoffenen Existenz
des Menschen und der Erforschung seiner Grenzen,
wenngleich unter veränderten Vorzeichen.
Denn die neuzeitliche Emanzipation von den
theologischen Wesensbestimmungen
des Menschen darf als abgeschlossen gelten. An die Stelle
des theozentrischen Dogmatismus
ist inzwischen die humangenetische
Technologie gerückt, dies nicht bloß als
Hauptgegner jeder selbstbestimmten Existenz,
vielmehr als Hauptbedrohung der menschlichen
Lebensweise überhaupt, da ihre Gentherapien oder
Keimbahninterventionen unter
Umständen irreversibel sind. Gewiß, die
mittlerweile auch an den Philosophischen
Fakultäten wie in der aufgeklärten Publizistik
nachhaltig geführten Debatten um radikale
Eingriffe in die menschliche Existenz sind über
die sich als „trans-” oder „posthuman” gerierenden
Verwegenheiten und Verrücktheiten der
80er und 90er Jahre hinweg; zudem werden bei uns die
einschlägigen Biowissenschaften durch
Instanzen wie den – gegenwärtig noch von den
Glaubensgemeinschaften dominierten –
„Deutschen Ethikrat” oder die Enquête-Kommission
des Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin”
kritisch begleitet. Und auf internationaler Ebene hat man
etliche mehr oder minder verbindliche Richtlinien
und Empfehlungen erarbeitet wie die
diversen UNESCO-Deklarationen (darunter
1997 die erste zum menschlichen Genom als
schützenswertem „Erbe der Menschheit”) und die
gleichfalls 1997 verabschiedete Bioethik-Konvention
des Europarats, die bislang aber von einigen
Mitgliedsländern wie Deutschland, Rußland und dem
Vereinigten Königreich aus
unterschiedlichen Gründen nicht unterzeichnet
wurde. Die Effizienz und Glaubwürdigkeit
solcher Ethikkonventionen oder -programme
wird jedoch überwiegend skeptisch eingeschätzt.35
Zumal dann, wenn sie als Trabanten einem
biotechnologischen Hauptprogramm zu- oder
unterge-
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35
„Die Halbwertzeit bioethischer Konventionen ist gering
und damit
auch das Ausmaß an Rechtssicherheit”. Dieter Birnbacher
(2000); zitiert nach: Heinz-Ulrich Nennen: Philosophie
in Echtzeit. Die Sloterdijk–Debatte: Chronik einer Inszenierung.
Über Metaphernfolgenabschätzung,
die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der
Diskurse (Würzburg
2003), S. 489.