ZWEITER LEBENSRAUM: VON PHANTASIEBILDERN ÜBERWUCHERT
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punkt
diese Verknüpfung stattfand und seit wann sie zum
Erinnerungsrepertoire gehört, ist nur noch selten
herauszubekommen. Von dem
,Sterntaler’-Mädchen betrachtete ich einst wirklich
an dieser Stelle eine farbige (blau-goldene?) Abbildung,
die einer Haferflocken-Packung
(„Köllnflocken”?) beigelegt war. Für mich
bedeutsam und erinnerbar aber wurde diese Szene
zweifellos nur in Assoziation mit Gittis traurigem
Schicksal (sie starb im März 1952, gerade acht Jahre alt); eine
Assoziation, mit der sich später noch
Andersens Mädchen mit den Streichhölzern als
sachliche und genreverwandte Assoziation verband
(das Märchen las ich um 1953/54).
Und
noch eine weitere, sehr viel später gebildete Assoziation hat sich
neuerdings hinzugesellt: Wie ich 1990 von Gittis Stiefvater,
meinem kriegsversehrten Onkel, erfuhr, lernte ich in diesem
Rondell laufen oder vielmehr spazierengehen, indem ich mich an
einer seiner Krücken festhielt. Diese Information hat sich
inzwischen als vages Raumgefühl – ohne eigentliches
Erinnerungsbild – an der Stelle
niedergeschlagen, wo schon Eiswagen, Kinderwagen und die
Hinkelkästchen (Hinkeln auf einem Bein!) angesiedelt
sind. Eine Stelle, die eine wunderliche Anziehungskraft
gewonnen hat.
Solch
wesentlich später herangeholte oder herbeigeflogene Assoziationen
können sich durch andere verstärken und allmählich
so dominant werden, daß die ursprünglichen Erlebnisse daneben
verblassen und als Erinnerungsszenen schließlich verschwinden.
Dies scheint der zweiten liebvertrauten Spielumgebung meiner
frühen Kindheit in dem kaum drei Kilometer entfernten
Niederrheindorf widerfahren zu sein, wo ich im Alter von
viereinhalb bis acht Jahren lebte (bis Januar '53). Aus der
elterlichen Wohnung konnte ich hier über die
Straße und einen Drahtzaun hinweg sogleich in die Rheinwiesen
treten. Nur noch eine mächtige, von uns manchmal
bekletterte Weide gleich links jenseits des Zaunes ist mir als
Blickfang und Ausgangspunkt der Orientierung zugleich
auch szenisch präsent. Was wir aber in den Wiesen in Sichtweite des
Hauses trieben, wird mir nicht mehr erinnerlich – solange
jedenfalls nicht, als ich mir die Umgebung in dem spontan sich mir
anbietenden, wiederum wie automatisch
ablaufenden visuellen Raumschematismus vergegenwärtige. Haben
sich doch hierbei in meiner Erinnerung den
Büschen und Bäumen der Wiesenränder Märchen- und Romanszenen
angelagert, die ich zum Teil erst lange nach meinem Wegzug
aus dieser Rheinwiesenstraße kennenlernte:
Links
vorne also der Kletterbaum, vor dem ich stehe und mit ziemlicher
Bewunderung zu einem größeren Jungen hinaufblicke, der da oben
einen Sitz einzurichten steht. Der Baum ist der erste in
einer langen, mit Stacheldraht umzäunten Reihe, die tief in die
Rheinwiesen hineinführt. Dort hinten, ein wenig nach
rechts hin, steht in meiner Erinnerung ein vereinzelter hohler Baum,
durch den in Andersens Märchen ,Das Feuerzeug’ der
Soldat von der Hexe in die Erdhöhle hinabgeseilt wird <um 1953/54
gelesen?>. Auf gleicher Höhe und etwas weiter
rechts davon schließt sich ein Wäldchen an, wo Schneeweißchen
und Rosenrot mit dem Bären wohnen und an dessen
äußerem Rand rechts die wilden Schwäne rauschend über ihre
Schwester hinwegfliegen <um 1953?>. Noch weiter nach
rechts in diesem Viertelkreisbogen, schon beinahe an seinem
äußersten unteren Rand, nahe der Straße, erscheinen am
Wiesensaum geheimnisvolle gemauerte Schächte
<Versorgungströge für Vieh>, die mir schon in früher
Jugend immer nur als ,Montezumas
Schatzkammer’ in den Sinn kommen <eine Assoziation aus
Stuckens Roman ,Die weißen Götter’, den ich erst um 1954/55
heimlich las>.