Als
ich im Spätsommer 1976 nach einem Jahrzehnt wieder an das im Dunkeln
daliegende ehemalige elterliche Wohnhaus trat und auf dem
Klingelschildchen einige Namen las, an die ich seit meinem
Wegzug zum Studium und nach mehreren Wohnungswechseln
keinmal mehr gedacht hatte, widerfuhr mir etwas Wunderliches. Nicht
nur war mir, als ob diese alten Nachbarn feindselig-verknöchert
in der Vergangenheit hockengeblieben wären, sondern als ob auch
von mir selbst, dessen Familienname dort verschwunden war, etwas
gleichwohl noch vorhanden wäre: ein von mir
abgetrenntes jugendliches Ich-Phantom, das mir, dem vom ausländischen
Wohnort wieder Vorbeigekommenen,
wie vorwurfsvoll zu verstehen gab, daß gewisse Lebens- und
Entwicklungsmöglichkeiten für mich
für immer verloren wären.
Seit
jener ersten Rückkehr registriere ich bei der Annäherung an
Lebensräume meiner Kindheit und Jugend öfter eine
verwandte, wenn auch viel schwächere Empfindung. Es ist ein
beklommenes Vorgefühl, das sich manchmal stärker als
Ehrfurcht vor dem Älteren in mir selbst ausnimmt und die Erwartung
aufbaut, dieses ältere, noch nicht voll entwickelte
Selbst oder Selbstgefühl hätte weiterhin Bestand und wollte mich
nun auch durch materielle Anzeichen davon überzeugen.
An Ort und Stelle hat es sich dann für gewöhnlich so weit
verflüchtigt, daß von ihm nur noch das Fluidum einer
hoffnungslos zurückgebliebenen Lebenszeit zu verspüren ist.
Mitunter allerdings ist das schon längst untergegangen
Geglaubte in der Lage, die Gegenwart so massiv zu infiltrieren,
daß der Zurückkehrende die Erfahrung einer zeitlichen
Doppelpräsenz machen kann. So erging es mir mit den
Fahrradstrecken meiner Kindheit und Jugend, die noch weithin
intakt waren. Damals tausendmal befahren, hatten sie
sich in ihrem groben Verlauf fest und wie unantastbar dem Gedächtnis
einprägen können. Beim Wiederabfahren der
Strecke lassen einen nun die vielen zu registrierenden, als solche
aber nicht erinnerbaren Details merkwürdig in der Schwebe zwischen
Gegenwart und Vergangenheit. Ist doch nicht mehr verläßlich zu
unterscheiden, ob sich diese Details in der Zwischenzeit
wirklich verändert haben, oder ob man immer noch das vor sich
hat, was man damals übersah oder, falls man es doch sah,
irgendwann einmal vergaß. Und wie hierbei das
Zeit- und Realitätsgefühl sich verwirrt, so auch das
Selbstgefühl. Denn man erfährt sich nicht mehr
souverän in der Gegenwart postiert, sondern wird berührt und
unterspült von Eindrücken, Regungen
und Erwartungen, die man in der ,verflossenen Zeit’ längst
hinter sich gelassen glaubte.
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