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Horst Fleig
KINDHEITSERINNERUNGEN

Essay über ihre Faszination, Genese und Erkenntnisleistung


Überarbeitete Fassung (vom 13.10.10) der Online-Version von 2006


,
GNOTHI SAUTON

(uralte Delphisch-philosophische Forderung, außerdem Motto und Haupttitel von Karl Philipp Moritz' ,Magazin zur Erfahrungsseelenkunde)



Als ich im Spätsommer 1976 nach einem Jahrzehnt wieder an das im Dunkeln daliegende ehemalige elterliche Wohn­haus trat und auf dem Klingelschild­chen einige Namen las, an die ich seit meinem Wegzug zum Studium und nach meh­re­ren Wohnungswechseln keinmal mehr gedacht hatte, widerfuhr mir etwas Wunderliches. Nicht nur war mir, als ob diese alten Nachbarn feindselig-verknö­chert in der Vergangenheit hockengeblieben wären, son­dern als ob auch von mir selbst, dessen Familienname dort verschwunden war, etwas gleichwohl noch vor­han­den wä­re: ein von mir abgetrenntes jugendliches Ich-Phantom, das mir, dem vom ausländischen Wohn­ort wie­der Vor­bei­ge­kom­me­nen, wie vorwurfsvoll zu ver­ste­hen gab, daß gewisse Lebens- und Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten für mich für immer verloren wären.


Seit jener ersten Rückkehr registriere ich bei der Annäherung an Lebensräu­me meiner Kindheit und Jugend öf­ter eine verwandte, wenn auch viel schwäche­re Empfindung. Es ist ein beklommenes Vorgefühl, das sich manch­mal stär­ker als Ehrfurcht vor dem Älteren in mir selbst ausnimmt und die Erwartung auf­baut, dieses äl­te­re, noch nicht voll entwickelte Selbst oder Selbstgefühl hätte weiterhin Bestand und wollte mich nun auch durch ma­te­ri­elle Anzeichen davon überzeugen. An Ort und Stelle hat es sich dann für ge­wöhnlich so weit ver­flüch­tigt, daß von ihm nur noch das Fluidum einer hoffnungslos zu­rückgebliebenen Lebenszeit zu verspüren ist. Mit­un­ter allerdings ist das schon längst untergegan­gen Geglaubte in der Lage, die Gegenwart so massiv zu in­fil­trie­ren, daß der Zu­rückkehrende die Erfahrung einer zeitlichen Doppelpräsenz machen kann. So er­ging es mir mit den Fahrradstrecken meiner Kindheit und Jugend, die noch weit­hin intakt waren. Damals tau­send­mal be­fahren, hatten sie sich in ihrem groben Verlauf fest und wie unantastbar dem Gedächtnis ein­prä­gen kön­nen. Beim Wie­derabfahren der Strecke lassen einen nun die vielen zu registrierenden, als sol­che aber nicht erinnerbaren Details merkwürdig in der Schwebe zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Ist doch nicht mehr verläßlich zu unterscheiden, ob sich die­se Details in der Zwischenzeit wirklich verändert ha­ben, oder ob man immer noch das vor sich hat, was man damals übersah oder, falls man es doch sah, ir­gend­wann ein­mal ver­gaß. Und wie hierbei das Zeit- und Realitätsgefühl sich verwirrt, so auch das Selbst­ge­fühl. Denn man er­fährt sich nicht mehr souverän in der Gegenwart postiert, sondern wird berührt und un­ter­spült von Ein­drü­cken, Re­gun­gen und Er­wartungen, die man in der ,verflossenen Zeit’ längst hinter sich ge­las­sen glaub­te.


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