Fundamentalethisch
ist auch Plessners Überzeugung, daß jede theoretische
Bestimmung des menschlichen Wesens schon ethischen
Charakter hat, da sie „ein Vorgriff auf die Praxis”
ist.26
In diesem Sinne weist er auf den inneren Konflikt
des soziologischen Rollenbegriffs hin, namentlich in
Dahrendorfs Modell eines ‚Homo
sociologicus’, das zwar die individuelle
Freiheit als außersoziale Privatheit
retten wolle, aber gerade dadurch den
„antigesellschaftlichen Affekt”
des Individuums so sehr verstärke, daß
es den Kontakt zur sozialen Realität verliere,
„jede Möglichkeit gesellschaftlicher
Verwirklichung. Die Freiheit muß eine Rolle
spielen können,und das kann sie nur in dem Maße, als
die Individuen ihre sozialen Funktionsleistungen nicht als
eine bloße Maskerade auffassen, in der
jeder dem anderen in Verkleidung gegenübertritt.”27
Plessner selber wählt eine andere
terminologische Bestimmung für den
Menschen, eine, die seine erkenntnistheoretische
Scheu vor der Festlegung des menschlichen Wesens28
auf den Begriff bringt: ,Homo absconditus’.
„Als ein in der Welt ausgesetztes Wesen ist der
Mensch sich verborgen – homo absconditus.
Dieser ursprünglich dem unergründlichen Wesen
Gottes zugesprochene Begriff trifft die Natur
des Menschen.”29
Unergründlich ist er für andere wie für sich selber
und weiß zudem um seine „Verborgenheit”. Das
Theorem der Unergründlichkeit des Menschen, dieser
„Nachtseite seiner Weltoffenheit”30,
verlangt von einer Philosophischen Anthropologie wie
der Plessnerschen eine besondere
Aufgeschlossenheit für alle nur erdenklichen
Möglichkeitsformen und Selbstentwürfe
des Menschen, geistige wie sozialpolitische,31
und schärft so methodisch die Urteilskraft ebenso für die
konstruktiven Formen menschlicher
Selbstüberschreitung wie die einer drohenden
Selbstzerstörung. Schon in seinem frühen Hauptwerk
Die Stufen des Organischen und der Mensch
zitiert Plessner den Gedanken, daß die auf
Erden existierende biologische
Ausprägung des Menschen nicht die einzig
mögliche ist: „Mensch sein ist an keine bestimmte
Gestalt gebunden und könnte daher auch (einer
geistreichen Mutmaßung des Paläontologen
Dacqué zu gedenken) unter man-
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26
Über
Menschenverachtung
(1953); in: Conditio
humana,
a.a.O., S. 104-116 (Zitat S. 116)
27
Soziale
Rolle und menschliche Natur (1960);
in: Diesseits
der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie
(Düsseldorf/Köln
1966), S. 23-35 (Zitat S.
34f.)
28
Über
Menschenverachtung,
a.a.O., S. 115f.
29
In dem Aufsatz Homo
absconditus,
a.a.O., S. 365
30
a.a.O., S. 359
31
Sozialpolitisch noch am ehesten respektiert wird für Plessner
diese
„Scheu vor einer Fixierung menschlichen Wesens und seiner
Bestimmung in einem nicht mehr revidierbaren Sinne“
in einer
„pluralistischen
Gesellschaft, d.h. einer Gesellschaft offen
miteinander
konkurrierender Wertsysteme”. In:
Über
einige Motive
der
Philosophischen Anthropologie,
a.a.O.,
S. 128