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Die
Offenheit dieser Essais wird auf bemerkenswert dialektische
Weise gesteigert. Zum einen befindet
sich der beschriebene Hauptgegenstand,
das Ich, in permanenter Veränderung. In seiner
Entwicklung und Reaktionsweise unvorhersehbar,
nimmt es ständig wechselnde und zu mitunter
widersprüchlichen Ergebnissen
führende Perspektiven ein; und zwar nicht bloß, wie oft in
Autobiographien zu
studieren, von einer Lebensphase zur anderen,
sondern „von Tag zu Tag, von Minute zu Minute”, so daß
Montaigne sagen kann: „Ich schildere nicht
das Sein, ich schildre das Unterwegssein”.20
Zum anderen wird das zu analysierende Ich durch die
langwierige, die Einsichten formulierende
und immer wieder ergänzende Niederschrift
selber nachhaltig umgestaltet:
„Indem ich dieses Porträt nach
mir formte, mußte ich, um die wesentlichen
Züge aus mir herauszuholen, derart oft die rechte Haltung
einnehmen, daß das Modell selber erst feste Konturen darüber
gewonnen, sich gleichsam selber erst ganz durchgestaltet
hat. Indem ich mich für andre malte, legte ich klarere Farben in mir
frei, als sie es ursprünglich waren. Ich habe mein Buch
nicht mehr gemacht, als es mich gemacht hat: ein Buch, das mit
seinem Autor wesensgleich ist”.21
Die
akademische Philosophie wußte bis weit ins 20. Jahrhundert
hinein mit diesem Denker nichts Rechtes
anzufangen. Der Philosophiehistoriker
Wilhelm Windelband registriert einigermaßen hilflos:
„Was von philosophischen Gedanken in die ‚Essais’
eingesprengt ist, stammt aus dem Pyrrhonismus” (einer
Spielart des ethischen und
erkenntnistheoretischen Skeptizismus der Antike).22
Was Montaigne an dieser Denkhaltung
fasziniert, ist ihre jedes endgültige Urteil immer
wieder aufschiebende "epochē”, bei der er es
selber allerdings nicht beläßt, da er ja bei aller
Umsicht und Behutsamkeit bis zum (Wert )Urteil
vordringt.23
Freilich befindet er sich dabei im Konflikt
„mit der wissenschaftlichen Taxonomie
und der Logik seiner Zeit … weil sie sich weigern, den
‚Mobilismus’ der Welt, in der alles
Bewegung, ‚Schaukeln’, Diversität
und Unvollkommenheit ist, in Betracht zu ziehen”.24
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20
III
2, S.33 („Je ne peins pas l’être. Je peins le passage”)
21
II
18, S. 505 („… Me peignant pour autrui, je me suis peint en moi
de couleurs plus nettes que n'étaient les miennes premières.
Je n'ai pas plus fait mon livre que mon livre m'a fait, livre
consubstantiel à son auteur”)
22
Wilhelm Windelband, Lehrbuch
der Geschichte der Philosophie,
hg. von Heinz Heimsoeth (15. Aufl. Tübingen 1957), S. 310
23
Zu Montaignes Hochschätzung der Urteilskraft vgl. Ian Maclean,
Montaigne
als Philosoph
(München 1998), S. 70f. sowie S. 47ff. zum „Pyrrhonismus”
und dessen Grenzen.
24
Maclean,
a.a.O., S. 107. Vgl.
auch S. 99 zu Montaignes Erschütterung der
„anerkanntesten
Oppositionen seiner Zeit: innerlich/äußerlich,
Ding/Bild des Dings, das Ich/der Andere, Akzidens/Wesen,
Notwendigkeit/Zufall, Essenz/Existenz oder Sein.”